Nach dem Mauerfall schien vieles besser zu werden, ein neues Kapitel der Geschichte wurde aufgeschlagen: Die globalisierte Wirtschaft war so stark vernetzt, dass bewaffnete Auseinandersetzungen undenkbar erschienen. Doch die russische Invasion und die scharfen Sanktionen des Westens haben dieses Kapitel beendet. Der Krieg ist zurück. Neben dem menschlichen Leid vor der eigenen Haustür verunsichern viele Deutsche auch zerbrochene Gewissheiten und die Sorge um die vertraute Lebenswelt. So trifft dieser Konflikt die deutsche Wirtschaft wie kein anderer nach dem Zweiten Weltkrieg – und hinterlässt auch deutliche Spuren in der Metropolregion Rhein-Neckar.
Dirk Simons, Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen an der Universität Mannheim, weiß um die Schwierigkeiten, vor denen deutsche Unternehmen stehen: Zum einen habe mit dem Ukraine-Krieg die Verlässlichkeit von Verträgen abgenommen, es sei nicht mehr klar, dass Lieferverpflichtungen eingehalten werden, und Eigentum im Ausland vor staatlichen Zugriffen geschützt ist. Zum anderen befänden sich viele Unternehmen hinsichtlich der Sanktionen in einem Zwiespalt: Sie seien zwar zu Wirtschaftlichkeit und Profitabilität verpflichtet, müssten aber auch öffentlichen Erwartungen gerecht werden. „Wenn man in Russland kaum Umsatz macht, ist es einfach, sich zurückzuziehen“, ordnet Dirk Simons ein. Wenn aber Unternehmen gegenüber einem Rückzug zurückhaltend sind, erwirtschafteten sie meist einen hohen Anteil ihres Umsatzes in Russland.
Der Betriebswirtschaftler kennt genaue Zahlen aus der Metropolregion Rhein-Neckar. Der von ihm mitinitiierte Forschungsverbund German Business Panel (GBP) erhebt nämlich bereits seit 2 Jahren Daten zur Stimmung in der deutschen Wirtschaft. Anhand ihrer tagesaktuellen Umfragen analysierten die Wissenschaftler bereits die Folgen der Covid-Pandemie und untersuchen nun die Auswirkungen des Krieges. Der erwartete Rückgang des Unternehmensgewinns könne bei bis zu 15 Prozent liegen, fasst Dirk Simons die Ergebnisse der letzten GBP-Umfragen zusammen. Die Unternehmen bewerteten die Wirtschaftssanktionen der Bundesregierung trotzdem überwiegend positiv. Die Zustimmung sinke jedoch recht rasch, wenn auch Sanktionen bei Erdöl und Erdgas ins Gespräch kämen. Hier komme die Abhängigkeit von den entsprechenden Energieträgern zum Tragen. Im Moment seien in den GBP-Umfragen aber noch keine gesteigerten Insolvenzbefürchtungen zu beobachten. „Da waren die Zahlen in der Corona-Krise schlimmer“, resümiert Simons.
70 Prozent der Unternehmen in Rhein-Neckar betroffen
Dennoch sind die Auswirkungen des Krieges auch auf die Unternehmen der Metropolregion beachtlich. Laut einer Umfrage der IHK Rhein-Neckar aus dem März 2022 waren mehr als 70 Prozent der Unternehmen aus der Region direkt oder indirekt vom Krieg und den verhängten Sanktionen betroffen. Dieser Befund erstaunt, denn auf den ersten Blick scheinen die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland nicht allzu eng: In der Rangfolge der deutschen Außenhandelspartner bewegte sich Russland 2020 auf Rang 15 beim Export und auf Rang 14 beim Import. Corona führte zu einer weiteren Lockerung des wirtschaftlichen Austauschs. Doch die verbliebenen Verbindungen haben es in sich.
An erster Stelle sind Unternehmen mit Dependancen in der Ukraine oder in Russland zu nennen. Hier standen zunächst meist ethisch-lebenspraktische Fragen zu Standorten und Mitarbeitern im Vordergrund: Hält man die Produktion vor Ort aufrecht oder schließt man die Betriebe und riskiert so auch eine Enteignung? Zahlt man weiterhin Löhne? Versetzt man die Mitarbeiter in das sichere Ausland? Ist das überhaupt möglich und gewünscht? Für die Geschäftsführung war und ist es oft nicht einfach, diese Fragen zu beantworten, die nicht nur das eigene Unternehmen betreffen, sondern auch tief in das Leben der betroffenen Mitarbeiter eingreifen. So kann auch die Aufrechterhaltung des Betriebs eine große Hilfe sein, gibt die Arbeit den Menschen vor Ort doch ein Stück Normalität im kriegerischen Alltag.
Doch damit enden die Herausforderungen für die deutschen Unternehmen nicht. Laut waren die Klagen der Industrie über die bedrohten Rohstofflieferungen, die sich überdeutlich in den raketengleich steigenden Nickelpreisen manifestierten. Sogar die ehrwürdige London Metal Exchange musste zeitweise schließen, die verschwiegene Kaste der Rohstoffhändler kam ordentlich ins Schwitzen. Ebenso sorgt sich die Chemieindustrie um Öl und Erdgas, die Chipindustrie um das für die Halbleiterproduktion dringend benötigte Neon. Der Mangel an Zellstoff und Papier verschärft sich. Und auch die Landwirtschaft sowie der Lebensmittelhandel sind betroffen: Russland und die Ukraine sind wichtige Getreidelieferanten der Viehwirtschaft und bedeutende Produzenten von Ammoniak und Dünger. Der Mangel an Dünger und die stark gestiegenen Dieselpreise machen den Bauern zu schaffen und in den Supermärkten fehlt das Sonnenblumenöl.
Aber auch in anderen Branchen sorgen abrupt unterbrochene Lieferketten für Friktionen: Die durch Chipmangel bereits schwer mitgenommene Autoindustrie muss auf ukrainische Kabelbäume verzichten, die Software-Unternehmen auf ihre Programmierer, die an der Front kämpfen und auch der Mangel an Lastwagenfahrern wird sich verschärfen. Wie bereits in Reaktion auf die Lieferengpässe der Covid-Pandemie gilt es nun wiederum Lagerbestände aufzubauen, neue Lieferanten zu suchen, um die Versorgungssicherheit zu verbessern.
Und auch Absatzmärkte brechen weg: Banken schreiben ihre Investments ab und Flugzeug-Verleiher ihre Maschinen, die Russland widerrechtlich requiriert hat. Direkt betroffen sind auf deutscher Seite auch die Hersteller von Maschinen, chemischen Erzeugnissen, Kraftfahrzeugen und Elektrotechnik. So steigt die Gefahr, dass Konkurrenten aus dem asiatischen Raum in diese Märkte vordringen. „Für europäische Unternehmen kann es ein langer und harter Kampf sein, diese Positionen wieder zurückzugewinnen“, stellt Dirk Simons fest. Hinzu treten generelle Störungen wie allgemeine Preissteigerungen und Mietausfälle, Aufschub von Investitionen, sinkende Umsätze und Personalanpassungen – also alles, was ein Wirtschaftssystem an Unsicherheiten zu bieten hat.
Pandemie und Krieg überlasten Unternehmen
„Wir sind von der Covid-Krise faktisch nahtlos in die Ukraine-Krise geraten“, erklärt Dirk Simons: „Solange der Krieg weiterverläuft, werden wir mitunter tiefgreifende Umbauprozesse beobachten“. Diese Gemengelage könnte manche Unternehmen in der Metropolregion überlasten. Darauf deuten Untersuchungen der Industrie- und Handelskammer Rhein-Neckar hin: „In einigen Fällen ist die Lage so schwierig, dass eine Insolvenz droht. Vor allem in der Verkehrsbranche und in den energieintensiven Industrien“, erläutert IHK-Hauptgeschäftsführer Axel Nitschke gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung: 7 Prozent der Betriebe berichten von einer deutlich verschlechterten Finanzlage bis hin zur Gefahr der Geschäftsaufgabe. Es können erneut staatliche Unterstützungsleistungen notwendig sein, um den unwiderruflichen Verlust von Arbeitsplätzen zu vermeiden.
„Der Staat kann Umsatzerlöse nicht dauerhaft ersetzen“, gibt Dirk Simons aber zu bedenken: „Niedrige Gewinne sorgen für geringe Steuereinnahmen. Dadurch verengen sich wiederum die Spielräume, um Unternehmen subventionieren zu können“. Man müsse deshalb zwischen kurzfristig gebotenen Unterstützungsmaßnahmen und langfristigen staatlichen Hilfen unterscheiden, die in der ganzen Breite nicht funktionieren würden. Will man sich nicht maßlos verschulden, wird das Geld für jede Form der Staatshilfe an anderer Stelle fehlen – bei der Infrastruktur, den Bildungseinrichtungen und der Kinderbetreuung.
Und die Kalamitäten sind noch lange nicht überwunden: Es ist unklar, wie der Krieg beendet werden kann, welchen Weg Russland in Zukunft einschlägt und in welchen Regionen der Welt weitere Spannungen entstehen, etwa zwischen China und Taiwan. Ein „Wiedervereinigungsversuch“ beider Länder durch die Volksbefreiungsarmee würde nicht nur die weltweit dominierende Chipindustrie in eine katastrophale Krise stürzen, sondern auch zahlreiche deutsche Großkonzerne fast aller Branchen um ihren wichtigsten Absatzmarkt bringen. Von den unabsehbaren Folgen für die Waren- und Lieferketten, für Handel und Weltfrieden ganz zu schweigen.
Steht aber auch ohne eine Verschärfung der Lage im asiatischen Raum die Globalisierung vor ihrem Ende? „Ich glaube nicht, dass es so schlimm kommt“, meint Dirk Simons: „Internationale Lieferketten werden weiterhin existieren. Ich denke aber, dass die Globalisierung selektiver ausgestaltet wird.“ Der Versorgungssicherheit würde nun wieder höhere Priorität eingeräumt werden. Statt nur auf einen würden die Unternehmen nun auf mehrere Lieferanten zurückgreifen und in kritischen Branchen würden künftig möglicherweise auch höhere Preise akzeptiert werden, um die Lieferungen zu garantieren. Ähnliche Tendenzen hätte man bereits während der Covid-Pandemie bei Medizinprodukten beobachten können. Und schließlich könnte der Risikoabwägung unterschiedlicher Länder bei Investitionsentscheidungen nun wieder mehr Bedeutung zukommen.
All das führe zu einer Bevorzugung räumlicher Nähe, denn je weiter sich die Lieferketten spannten, desto größer werde die Unsicherheit. Das könnte, so Dirk Simons, zu einer stärkeren Ausbildung von Wirtschaftsblöcken – die etwa Russland, China und Indien umfassen – führen. Das klingt nach ziemlich viel Porzellan, das zerschlagen wurde. Und es dauert wohl lange, bis alle Tassen wieder im Schrank sind.
Text: Stefan Burkhardt, Bild: Pixabay