Roche ist mit 8650 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in Mannheim. Und: Das Unternehmen hat gerade über 160 Millionen Euro in seinen Standort in der Quadratestadt investiert. Warum? Das erklärt in unserem Gespräch Dr. Claudia Fleischer, Geschäftsführerin der Roche Diagnostics GmbH.

 

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Deindustrialisierung. Sehen Sie auch diese Gefahr?
Lassen Sie mich mit zwei Zahlen anfangen. Der Bundesverband der Industrie (BDI) sagt, dass der industrielle Kern in Deutschland 2016 bei 22,9 Prozent lag und 2022 bei 20,3 Prozent, jeweils als Anteil an der Bruttowertschöpfung. Das heißt: Industrielle Wertschöpfung wandert ab, Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland.

Dafür gibt es viele Gründe, zum Beispiel die deutsche Bürokratie, aber auch hohe Steuern und hohe Energiekosten.
Welche bürokratischen Hemmnisse müssen Sie täglich überwinden?
Um festzustellen, ob neue Medikamente, Diagnostika oder Laborverfahren sicher und wirksam in der Behandlung von Menschen eingesetzt werden können, sind zum Beispiel klinische Studien unerlässlich. Dafür brauchen wir Genehmigungen und Prüfungen, was alles richtig und wichtig ist. Doch die entsprechenden behördlichen Prozesse dauern in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich länger.

Warum ist das so?
Weil bestimmte Regeln für klinische Studien sowohl zentral als auch dezentral festgelegt sind, etwa beim Datenschutz. Für klinische Studien erfassen wir viele Daten, deren Nutzung zu regeln ist. In Deutschland gilt dafür neben der europäischen Datenschutzgrundverordnung, kurz DSGVO, und den Bundesdatenschutzgesetzen auch die Landesgesetzgebung. Außerdem müssen wir uns nach 13 länderspezifischen Krankenhausgesetzen richten. Dieses komplexe Geflecht aus Rechtsvorschriften erschwert den Datenaustausch und ist ein zentrales Hindernis für die digitale Transformation unserer Branche.
Das erzeugt eine heterogene und restriktive Welt aus Datenschutzvorschriften, die kaum zu durchdringen ist. Außerdem sind die Regeln in Teilen kaum aufeinander abgestimmt. Das führt zu mehr Aufwand, weshalb immer mehr klinische Studien ins Ausland verlagert werden.

Dr. Claudia Fleischer ist seit dem 1. Januar 2023 Geschäftsführerin der Roche Diagnostics GmbH, und zwar an den Standorten Mannheim und Penzberg. Sie studierte Pharmazie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und promovierte in pharmazeutischer Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Ihre Karriere bei Roche begann 2004, als sie Koordinatorin für klinische Studien wurde, im Bereich Technische Entwicklung der Pharma Division in Basel.

 

Neben der Bürokratie ist gerade der Fachkräftemangel ein wichtiges Thema. Wie weit ist Roche davon betroffen?
Wir haben quantitativ und qualitativ einen guten Eingang an Bewerbungen. Wir merken aber auch, dass das nicht mehr für alle Bereiche zutrifft. Bei bestimmten Qualifikationen und Tätigkeiten wird es auch für uns schwerer, die nötige Zahl an Bewerbungen in der erforderlichen Qualität zu erhalten.

Welche Fachrichtungen sind betroffen?
Zum Beispiel: Ingenieurwissenschaften, Maschinenbau oder Informationstechnik. Genauso gesucht: Datenanalysten und KI-Experten.

Haben Sie Ideen, wie sich diese Lücken schließen lassen?
Roche setzt einerseits auf die eigene Ausbildung. Allein in Mannheim beginnen pro Jahr rund 100 junge Menschen ihre Ausbildung bei uns – auch in immer neuen Fachrichtungen wie der Softwareentwicklung. Andererseits stellt sich die Frage: Wo existieren generelle Potenziale für den Arbeitsmarkt? Ein bisher in Deutschland noch zu wenig ausgeschöpftes Potenzial sind Frauen. Hier geht es vor allem um die Vereinbarkeit von Beruf und privaten Lebensumständen, was besonders junge Frauen mit einem Wunsch nach Familie betrifft. Wir müssen es also schaffen, für diese Frauen eine gute Balance zu finden. Hier versuchen wir eine Antwort über unser ElternPlus-Programm anzubieten.
Außerdem gibt es Menschen mit Inselbegabungen, etwa Autisten. Auch sie können wir besser in die Arbeitswelt integrieren, etwa indem wir gezielt Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Ein weiteres Potenzial sind Rentner und Pensionäre, die sich oft noch fit fühlen. Schließlich gibt es noch das Potenzial durch qualifizierte Einwanderung.

Wie ließe sich ein gutes Zuwanderungsgesetz gestalten, damit die Wirtschaft auch auf diesem Wege qualifizierte Arbeitskräfte bekommt?
Die Bundesregierung hat bereits wichtige Schritte unternommen. Insgesamt brauchen wir einen gemeinsamen Dialog zwischen Wirtschaft, Regierung und zuständigen Behörden, um die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass eine qualifizierte Zuwanderung möglich und zielführend wird. Dabei lautet die Frage: Wie schaffen wir es in diesem Bereich, bürokratische Anforderungen zu reduzieren, ohne die nötigen Prüfungen einzuschränken?

Wie könnte das genauer aussehen?
Da gibt es zum Beispiel die Strukturen und Prozesse der Behörden: Wie ist ein Antrag zu stellen? Auf Papier oder elektronisch? In welcher Sprache? Wie können wir Menschen mit Wertschätzung begegnen, wenn Sie bei uns im Land sind? Weitere Themen sind Wohnraum, Schule, Sprache und Kinderbetreuung. Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten; wir sollten dazu vernetzte Lösungen entwickeln – im Dialog zwischen Wirtschaft und Regierung.

Kommen wir zu den Energiekosten. Welche Rolle spielen sie bei Roche Diagnostics?
Roche gehört sicher nicht zur energieintensiven Industrie. Trotzdem haben wir in diesem Jahr die steigenden Energiepreise deutlich zu spüren bekommen, besonders in unserem Penzberger Werk. In Mannheim haben wir andere Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch die Nähe zur Friesenheimer Insel. So haben wir bereits 2018 die Wärmeversorgung umgestellt, und zwar auf Wärmedampf, den wir von der Müllverbrennungsanlage der MVV beziehen. Damit konnten wir frühzeitig Weichen stellen, um unsere Energieversorgung nachhaltiger zu gestalten.

Die Müllverbrennungsanlage steht auf der Friesenheimer Insel, also um die Ecke von Roche.
Genau. Auf diese Weise beziehen wir Wärme, um Gebäude zu heizen sowie die Produktion mit Wärme und Kälte zu versorgen. Auch unseren Strom haben wir seit 2018 komplett auf Ökostrom umgestellt, was uns geholfen hat, unser Gaskraftwerk abzuschalten.
Heute haben wir drei Säulen der Energieversorgung: Ökostrom, Wärme von der MVV und eigene Photovoltaikanlagen. Aus der Sonne gewinnen wir 1,2 Millionen Kilowattstunden, der jährliche Strombedarf von rund 410 Einfamilienhäusern. Außerdem haben wir an einem unserer Parkhäuser die größte vertikale PV-Anlage Europas installiert. Mit diesen Investitionen konnten wir seit 2018 unseren CO2-Ausstoß um mehr als die Hälfte reduzieren.

Roche in Mannheim
Der Mannheimer Roche-Standort ist der drittgrößte des Schweizer Pharma-Konzerns. Etwa 8650 Mitarbeitende aus rund 60 Nationen sind hier beschäftigt. Davon absolvieren derzeit rund 300 eine Ausbildung oder ein duales Studium. Der Campus ist wichtig für die Diagnostik- und Pharma-Sparte des Unternehmens. Hier entwickelt Roche Produkte für Menschen mit Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie etwa Gerinnungssysteme. Das Unternehmen arbeitet ebenfalls an Lösungen für ein effektives Diabetes Management – von der Blutzuckermessung bis zur Insulingabe. Zudem werden in Mannheim innovative Medikamente gegen Krebs sowie wichtige Produkte für die In-vitro-Diagnostik hergestellt. Dazu gehören u. a. Flüssigreagenzien, Teststreifen für die Point-of-Care Diagnostik sowie Blutzuckerstreifen, die in die ganze Welt geliefert werden. Eines der drei Exzellenz-Zentren für parenterale Arzneimittel im Roche-Verbund ist in Mannheim tätig. Quelle: Roche

Sprechen wir wieder über „Deindustrialisierung“. Unternehmen verlassen Deutschland, Roche investierte in diesem Jahr über 160 Millionen Euro in den Standort Mannheim. Zeichnet sich da ein neuer Trend ab?
Grundsätzlich sind Investitionen immer langfristige unternehmerische Entscheidungen. Sie beruhen auf Rahmenbedingungen, die förderlich für ein innovatives Unternehmen sein sollten.

An welche Rahmenbedingungen denken Sie?
Deutschland hat im internationalen Vergleich ein sehr gutes duales Ausbildungssystem. Wir haben eine starke Hochschullandschaft, die für eine sehr lebendige Forschung in unserem Land sorgt. Das führt zu exzellent ausgebildeten Fachkräften. Diese positiven Gegebenheiten sollten zusammenspielen mit politischen Rahmenbedingungen, die Innovationen unterstützen. Damit meine ich keine Fördergelder und Subventionen, sondern innovationsfreundliche Standortfaktoren, mit denen wir als Unternehmen agieren und etwas in Form von Wertschöpfung zurückgeben können.

Bleibt uns Roche in Zukunft erhalten?
Wir glauben an den Standort Deutschland. Wir glauben auch an das Know-how am Standort Mannheim und in der Region, in der sich Städte mit renommierten Universitäten und Hochschulen befinden. Für uns zählt außerdem die Nähe zum Flughafen in Frankfurt. Wir haben hier unser globales Schulungszentrum, in das Servicetechniker aus aller Welt kommen. Das sind 200 Schulungen pro Monat, ein reges Kommen und Gehen. Wir haben ebenfalls ein großes globales Zentrum für Logistik, das jeden Tag Produkte in 170 Länder verschickt. Da ist die Anbindung an einen nahen Flughafen sehr wichtig, genauso wie ein gutes Straßennetz mit Autobahnen.

Gibt es weitere entscheidende Standortfaktoren?
Die starke Start-up-Kultur in der Region! Gerade in Mannheim werden Start-ups intensiv gefördert. Wir schauen uns an, welche Start-ups zu uns passen, und wie eine Zusammenarbeit aussehen könnte. Zudem ist Mannheim eine lebenswerte Stadt, genauso wie die attraktive Umgebung. Neben Bildung und Logistik kommt es darauf an, dass Menschen gerne in einer Region leben.
So gibt es harte und weiche Faktoren. Und Unternehmen prüfen genau, wo sie längerfristig aktiv sein wollen. Da beobachten wir mit Sorge Entwicklungen, die sich in den vergangenen Jahren ergeben haben. Stichwort: GKV-Finanzstabilisierungesetz. Wenn solche Gesetze die Bedingungen für Investitionen und Innovationen beeinträchtigen, geht Vertrauen verloren. Neben Stabilität und Verlässlichkeit ein weiterer weicher Standortfaktor, der sehr wichtig ist. Auf jeden Fall gilt für Roche: Wir sind ein Unternehmen, das sich hier seit vielen Jahren wohlfühlt. Wir sind seit 150 Jahren in Mannheim und der Region verankert – und wir wollen weitere 150 Jahre hinzufügen.

Interview Ingo Leipner; Bilder Thomas Neu