Der eine Schüler sitzt frustriert auf einer grauen Couch und klagt: „Schülerleben … Du ewige Kette der Enttäuschungen“. Sein Kumpel hockt zusammengekrümmt auf dem Boden, auch er ist miserabel gelaunt und sagt: „ChatGPT … KI-Erkennungssoftware.“ Wer diese Karikatur der „Frankfurter Rundschau“ nicht versteht, ist in guter Gesellschaft. Bis zum Herbst 2022 kannte niemand das Kürzel ChatGPT. Dann breitete es sich rasend-schnell über den Planeten aus – als das „next big thing“ aus dem Silicon Valley.

Worum geht’s? Das erklärt Judith Simon, Professorin für Ethik in der Informationstechnologie („Frankfurter Rundschau“): Wie Suchmaschinen greift ChatGPT auf Informationen aus dem gesamten Netz zu, etwa aus Online-Foren oder sozialen Netzwerken. „Diese großen Sprachmodelle“, so Simon, „erkennen im Grunde genommen Muster in all diesen Daten, mit denen sie gefüttert worden.“ Es geht um „Wahrscheinlichkeiten von Wortkombinationen“, aber auch um die Charakteristika bestimmter Textsorten wie Krimis, Zeitungsartikel oder wissenschaftliche Arbeiten. Wer dem System eine Anweisung („Prompt“) eingibt, legt fest, welcher Inhalt in welchem Stil zu schreiben ist. So werden „neue Texte basierend auf diesen zuvor erlernten Mustern produziert“, erklärt die Expertin. Verblüffend an ChatGPT ist, dass die Texte täuschend echt erscheinen – wie aus der Feder eines Menschen: flüssiger Stil, saubere Grammatik, gute Wortwahl. Doch Simon stellt klar: „ChatGPT denk nicht, es versteht nicht, es simuliert nur Sprache.“ Ob ein Text von einem Menschen oder einer Maschine stammt, sage nichts aus „über die (Denk-)Kompetenz der Maschine, sondern nur über die Kompetenz des Menschen, zwischen beidem zu unterscheiden.“ Die Wellen schlagen hoch, seit die Firma OpenAI ihren Textgenerator ChatGPT ins Netz gestellt hat, zugänglich für jedermann seit November 2022. Doch die Geister scheiden sich! Im Marketing-Fachblatt HORIZONT überwiegen positive Aspekte: „Die KI wird breiter, tiefer und schneller Wissen, irgendwie passende Daten und Inhalte zusammensuchen können als jeder menschliche Akteur. Beeindruckend!“ Damit würden „mehr Zeit und Raum für Denkarbeit und eigene Recherche“ bleiben. Auch der „Formulierungskunst“ könnte ChatGPT auf die Sprünge helfen.

Risiken sehen die Autoren ebenfalls, aber sie wiegen nicht ganz so schwer: „Natürlich gibt es die Gefahr, dass Menschen mit KI in böser Absicht massenweise Unsinn produzieren, der professionell aussieht und dann als übler Fundus für weitere KI-Algorithmen dienen könnte.“ Doch das sei eher eine Frage der „digitalen Distribution und des Umgangs mit Absendern.“
Spannend, was Karin Immenroth in derselben Horizont-Ausgabe zu sagen hat. Sie ist Chief Data & Analytics Officer, RTL Deutschland; ihre Haltung ist von Ambivalenz geprägt. Zum einen freut sich Immenroth: „Wir haben mit solchen Systemen die Chance, Kreativität zu fördern, indem sie Inspiration liefern, die dann durch einen Kreativen ‚geschliffen’ wird.“


Kostprobe
Prompt: „Keynesianismus“, „wissenschaftlicher Text“

ChatGPT: „Der Keynesianismus ist eine Wirtschaftstheorie, die von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes entwickelt wurde. Er argumentierte, dass die Wirtschaft durch staatliche Intervention angekurbelt werden kann. Seine Theorie basiert auf der Annahme, dass ein staatlicher Eingriff in die Wirtschaft zu einer Erhöhung des Einkommens und einer Senkung der Arbeitslosigkeit führt.“

Plagiatscheck: Google sucht nach der Teilphrase „Der Keynesianismus ist eine Wirtschaftstheorie, die von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes entwickelt wurde. Er argumentierte, dass“. Es gibt keine wörtlichen Treffer, den Text hat offenbar ChatGPT originär erzeugt.


Solche KI-Anwendungen öffneten „die Pforte zu einer Skalierung von Kreativinhalten, wie es in einem rein manuellen Vorgehen zuvor nicht möglich war.“ So würden Texter oder Grafiker in ihren Tätigkeiten unterstützt, wodurch ein „völlig neues Maß der Personalisierung“ möglich werden könnte. „Wir glauben daran, dass Systeme wie ChatGPT kooperative Einsatzzwecke fördern können und eine neue Art der Interaktion zwischen Mensch und Computer ermöglichen“, so Immroth. Soweit die Sonnenseite …
Die RTL-Mitarbeiterin sieht aber auch die Schattenseite: „ChatGPT gibt nicht immer korrekte Antworten, enthält Biases und kann ein Accelerator für Fake-News sein.“ Hacker könnten mit ChatGPT bösartige E-Mails und Codes erstellen, um Cyberangriffe gezielter und effizienter durchzuführen. Immenroth: „Auch sollten wir die Rolle von OpenAI als Macht- und Datenmonopol kritisch im Hinterkopf behalten.“

Aber eine Frage wird im Diskurs kaum gestellt: Was bedeutet das Outsourcing geistiger Leistungen für das menschliche Bewusstsein? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, den komplexen Prozess des Schreibens näher zu betrachten. Hilfreich können dabei Modellierungen sein, etwa das bekannte Schreibmodell von John Hayes und Linda Flower, das auf kognitionspsychologischen Erkenntnissen beruht.

Drei große Bereiche weist das Modell aus:
Aufgabenumfeld: In dieses Umfeld gehören alle Elemente, die zum Schreiben zählen, bevor ein Autor zur Tastatur greift. Zunächst die Schreibaufgabe, die den Anlass für den Prozess liefert (Thema, Bezug zu Adressaten, motivierender Impuls). Zudem ist der bisherige Text zu beachten, weil er immer auf den Text abzustimmen ist, der fortlaufend entsteht.
Langzeitgedächtnis: Ein Autor greift in der Regel auf drei Komponenten zurück, die auf seinem Wissen und Gedächtnis aufbauen. Das Langzeitgedächtnis liefert Wissen über das Thema. Wichtig sind auch seine Kenntnisse über Adressaten, um zielgruppengerecht zu formulieren. Und: Er muss Wissen zu bestimmten Textmustern abrufen, damit das richtige Sprachniveau erreicht wird.
Schreibprozess: Er lässt sich in drei Phasen unterteilen (Planen, Formulieren, Überarbeiten).

Am Anfang steht das Planen, das diese Teilschritte umfasst.

  • Das Sammeln von Ideen: Entscheidend ist dabei der Zugriff auf das Weltwissen des Autors! Bestehende Wissensbestände sind zu prüfen, ob sie als Inspiration für das aktuelle Projekt dienen können.
  • Die Strukturierung des Materials: So wird das Wissen organisiert, was zu einer Gliederung führen kann.
  • Setzen von Schreibzielen: Das ist der letzte Schritt der Planungsphase. Konkrete Ziele sind zu reflektieren und festzulegen.

Darauf kommt das Formulieren: Der Autor schreibt die Inhalte von Notizen und Skizzen sowie erste Argumente „ins Reine“. Die Kunst besteht darin, eine gewisse Distanz zum eigenen Text zu wahren – und sich in die möglichen Erwartungen der Adressaten einzufühlen (Empathie!). So schafft es der Autor, den Schreibprozess zu reflektieren, zu steuern und zu kontrollieren. Das erfordert eine intrapsychische Instanz, die Hayes und Flower „Monitor“ nannten.

Der dritte Schritt im Schreibprozess steht in enger Beziehung zum Formulieren, es handelt sich um das Überarbeiten: Das muss nicht immer am Bildschirm geschehen, erste Reformulierungen nehmen viele Autoren schon im Kopf vor.
An dieser Stelle des Schreibprozesses wird deutlich, dass er in keiner Weise linear verläuft. Die genannten Phasen basieren nicht auf einer festen Reihenfolge: Werden Sätze revidiert und durch neue Formulierungen ersetzt, ist das ein rekursiver Ablauf. Das bedeutet, „dass jede Formulierung überarbeitet und zu einer neuen Formulierung wird, die auch wieder überarbeitet werden kann“, wie es Jasmin Merz-Grötsch ausdrückt.

Diese Rekursivität spiegelt sich in der Komplexität des Schreibens: Einzelne Tätigkeiten überlappen sich, alle Prozesse lassen sich beliebig wiederholen, frühere Aktivitäten vermischen sich mit späteren, jede neu gewählte Formulierung gibt den Anstoß für weitere neue Formulierungen – und alle diese Prozesse können gleichzeitig erfolgen!

Fazit: Wer das Modell von Hayes und Flower kennen lernt, sollte in ein großes Staunen verfallen, welche komplexen Wege der menschliche Geist einschlägt, um seine Gedanken in Texten anderen Menschen mitzuteilen. Eine großartige Leistung, die bereits bei Alltagstexten wie für econo zu spüren ist – und in wenigen Fällen mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt wird. Vielfältig sind die Fähigkeiten, die dazu gefragt sind: Kreatives Denken, Offenheit für Inspirationen, Zähigkeit und Durchhaltekraft, Konzentration, kritisches Hinterfragen, Empathie … wahrscheinlich lässt sich diese Liste noch weiter fortsetzen. Eine rote Liste bedrohter Kompetenzen!

Im Sport gilt die Regel: „Use it, or lose it“. (frei wiedergegeben: „Nutze Deine Muskeln, sonst verkümmern sie“). Nun lässt sich im Moment nicht abschätzen, in welchem Umfang ChatGPT das humane Schreiben verdrängt. Werden viele Journalisten arbeitslos? Ein erstes Signal: Microsoft hat im Januar laut Bloomberg zehn Milliarden Dollar in OpenAI investiert, offensichtlich wittert der Software-Monopolist große Chancen am Markt.

Doch jeder Knopfdruck-Text der Künstlichen Intelligenz verhindert, dass Menschen über ihre Worte tiefer nachdenken! Ein Angriff auf das Bewusstsein, weil der Mensch geistige Räume zum Üben verliert – genauso wie ein Sportler, der sein Training vernachlässigt. Schreiben ist ein geistiger Prozess, der viel zu wertvoll ist, um ihn an Computer zu delegieren.

Text: Ingo Leipner; Bild: Elena/stock.adobe.com