Frau Schildhauer, der Name Ihrer Stiftung hat einen besonderen Hintergrund. Warum erinnern Sie sich so gerne an Ihre Großmutter? Alwine Auguste Johanne Brand? 

Martina Schildhauer: Sie war eine außergewöhnliche Frau, geboren 1891 in einem kleinen Dorf in Ostwestfalen. Ostwestfalen ist übrigens auch meine Heimat. Mein Großvater war Metzger- und Innungsmeister. Alwine stand im Metzgerladen, was damals mit harter körperlicher Arbeit verbunden war. Jeden Abend wurde z. B. die Ware ins Kühlhaus geräumt, was ich auch als Kind erlebt habe. Meine Großmutter war immer sehr beschäftigt, trotzdem außerordentlich ruhig und gütig. Sie lachte viel und war sehr christlich eingestellt. Und: Sie hat sich nach langen Arbeitstagen darüber hinaus noch um viele ihrer Mitmenschen gekümmert. Das zeigte sich bei ihrer Beerdigung: an ihrem Grab standen Wäschekörbe mit Briefen, die Menschen geschrieben hatten, denen sie half – ohne dass wir das wussten.  

 

Wie hat sie geholfen? 

Martina Schildhauer: Sie hat u.a. sehr viel in der NS-Zeit getan: Viele Nachbarn und Kunden waren Juden, die sie heimlich mit Nahrungsmitteln versorgte. Sie packte z. B. Fleisch in Papier und ließ kleine Päckchen am Hintereingang der Metzgerei liegen. Die jüdischen Nachbarn huschten schnell vorbei und nahmen diese mit, denn sie unterlagen einer zeitweisen Ausgangssperre. Alwine selbst stand mehrfach für diese und weitere Unterstützung der jüdischen Bevölkerung vor einem NS-Gericht.  

Vor diesem Hintergrund waren die Dankbriefe aus den Wäschekörben beeindruckend;  meine Großmutter hatte in ihrer kleinen Bibel notiert, dass wir um ihre Wohltätigkeit kein großes Aufheben machen sollen, weil es für sie eine christliche Selbstverständlichkeit sei. Meine Großmutter ist für mich ein Vorbild gewesen, und daher war es naheliegend, mein Engagement unter ihren Namen zu stellen.   

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Martina Schildhauer 

Martina Schildhauer rief 2009 die heutige „alwine STIFTUNG  – IN WÜRDE ALTERN“ ins Leben, ursprünglich als „Stiftungsinitiative Altersarmut“. Die Stiftung steht für die Themen Altersarmut, Gewalt im AlterundDemenz. Schildhauer ist auch heute der Motor der Stiftung und will schnell direkt und unbürokratisch Betroffenen helfen, die durch das soziale Netz fallen. Neben diesen Hilfsangeboten gibt die Stifterin auch Anstöße für einen öffentlichen Diskurs. 2019 würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihr Engagement, indem er ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verlieh.  

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Frau Schildhauer, Ziel Ihrer Stiftung ist es, ein Alter in Würde möglich zu machen. Wo sehen Sie im Moment die größten Defizite? 

Martina Schildhauer: Der Begriff „Würde“ ist sehr schwer zu definieren, obwohl im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das sind zunächst schöne Worte. Es lässt sich allerdings nicht genau definieren, wo die Würde anfängt, und wo sie aufhört. Jeder Mensch hat dafür ein eigenes Gefühl.  

Defizite treten auf, wenn Abhängigkeit entsteht; ganz besonders im Fall von Kindern, Kranken und alten Menschen. Dies beginnt bei demütigenden Verbalisierungen sowie Handlungen und reicht bis hin zur Gewalt. Oft fehlt auch der Respekt gegenüber Älteren. Weil sich Großfamilien auflösen, bleiben viele Menschen alleine. Einsamkeit wird daher für junge und alte Menschen ein großes Thema und zunehmend zu einer gesellschaftlichen Aufgabe. 

Einsamkeit, Armut und Gewalt – wie versuchen Sie, mit Ihrer Stiftung diesen Phänomenen im Alter zu begegnen? 

Martina Schildhauer: Am Anfang setzte ich mich gegen Altersarmut von Frauen ein, indem ich finanzielle Nothilfe im Einzelfall leistete. Ein Beispiel von vielen: Eine alte Frau meldete sich und sagte, ihre kleine Rente von 127 Euro im Monat reiche nicht aus, um über die Runden zu kommen. Zu groß sei aber ihre Scham, Grundsicherung zu beantragen. Ein anderes Beispiel: Eine 80-jährige lebt nach dem Tod ihres Mannes mit einer spastisch gelähmten Tochter zusammen und müsste den seit zehn Jahren kaputten Treppenlift nutzen.  Die Reparatur zahlte kein Sozialamt. Beides sind Beispiele, wo wir bei sozialen Lücken mit unserer Arbeit und finanziellen Hilfe eingesprungen sind, um diese wenigstens einigermaßen zu schließen. 

 

War Altersarmut früher schon ein Thema? 

Martina Schildhauer: Als ich mit dieser Arbeit 2008 angefangen habe, kam das Thema Altersarmut kaum in der Öffentlichkeit vor. Dieser Missstand in unserer wohlhabenden Gesellschaft hat mich zutiefst empört, und ich beschloss, hier tätig zu werden. Begonnen hat mein Engagement bei der „Altersarmut von Frauen“. Ihre Rentenbezüge lagen damals um ca. 50 Prozent niedriger als bei Männern. Im Klartext: Allein davon war ein auskömmliches, würdevolles Leben im Ruhestand unmöglich.  

 

Ganz einfach war es nicht, im Einzelfall finanziell zu helfen? 

Martina Schildhauer: Das stimmt. Dafür bedarf es einer Bedürftigkeitsprüfung. Über fünf Jahre sammelten wir anonymisierte Anträge Betroffener, die uns gezeigt haben, wie vielfältig die Thematik des Alterns notleidender Menschen ist. Gemäß meinem Motto „schnell, direkt und unbürokratisch“ wurden die beantragten Mittel – häufig noch am gleichen Tag – dank meines Fonds zur Auszahlung gebracht, den ich zu meinem 50. Geburtstag gegründet hatte.  

 

War es leicht, einen Kontakt zu armen Menschen aufzubauen? 

Martina Schildhauer: Längst nicht alle bedürftigen Menschen trauen sich, nach Hilfe zu suchen. Viele von ihnen schämen sich und verschweigen ihr Elend. Diesen Menschen müssen wir vermitteln, dass der Ruf nach Unterstützung keine Bettelei ist, für die sie sich schämen müssten. Genau da setzt seit 2015 unsere Beratungsstelle an. Hier werden die Menschen intensiv und sehr persönlich beraten, damit das zur Hilfe notwendige Vertrauen überhaupt entstehen kann. Hier haben sich ebenfalls eine Vielzahl von Hilfsmöglichkeiten entwickelt. Ein Blick auf unsere Webseite zeigt unsere vielfältige Arbeit und viele Projekte (www.alwine-stiftung.de).  

Kirsten Korte (l.), Geschäftsführerin des Vereins Zukunft Metropolregion Rhein-Neckar, sowie Martina Schildhauer (alwine-in würde altern. Bild: Thomas Neu

 

Es gibt aber auch Herausforderungen auf der gesellschaftlichen Ebene? 

Martina Schildhauer: Gesellschaftlich bedarf es eines besonderen Bewusstseins für unsere Themen. Das vermitteln wir in Form von Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Öffentlichkeitsarbeit. Dies gilt ebenso für das Thema Gewalt im Alter. Ich kann mich an eine Frage einer Dame im Publikum noch sehr gut erinnern, die wissen wollte: „Sind die Menschen nicht selbst an ihrer Misere schuld?“  Das sehe ich ganz anders: Wenn jemand alt und notleidend ist, stelle ich doch nicht die Schuldfrage. Da muss geholfen werden! Altern ist so individuell wie die Menschen, jedes Schicksal ist anders. 

 

Frau Schildhauer, Sie haben mit Hilfe im Einzelfall begonnen, dann hat Sie aber Ihr Engagement auf neue Wege geführt, oder? 

Martina Schildhauer:  2015 nahm ich das Thema Gewalt im Alter in meine Stiftungsarbeit auf. Dabei erwies sich dieses Thema als weitaus schwierigere und somit deutlich tabuisierte Problematik. Wir haben auch diese Themen in den öffentlichen Diskurs gebracht und arbeiten eng mit Experten sowie einem mittlerweile großen Netzwerk zusammen. So konnte auch unser Hilfetelefon und eine Schutzwohnung initiiert und finanziert werden – für Menschen, die im Alter von Gewalt betroffen sind. 

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Kirsten Korte 

Kirsten Korte ist Geschäftsführerin im Verein Zukunft Metropolregion Rhein-Neckar (ZMRN e.V.). Der ZMRN hat die Aufgabe, regionale Initiativen und Projekte u.a. in den Bereichen wie Innovation, Mobilität, Bildung und auch Bürgerschaftliches Engagement voranzutreiben, damit die Region fortschrittlich, engagiert und lebenswert bleibt. Aus diesem Grund hat der Verein, der seinen Sitz in Mannheim hat, die Initiative ergriffen, die Stiftungen der Region Rhein-Neckar mit einander zu vernetzen. Er ging 2006 aus einer Fusion hervor, nämlich des Rhein-Neckar-Dreieck e.V. und der privatwirtschaftlichen „Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck“. Seitdem engagieren sich Beteiligte aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik im Netzwerk für ein gemeinsames Ziel: Die Region Rhein-Neckar soll 2025 eine der attraktivsten und wettbewerbsfähigsten Regionen Europas sein. Weiteres zu ZMRN unter
www.m-r-n.com/verein

 

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Kirsten Korte: In der Tat lässt sich die Frage leicht ausblenden, weil viele Menschen mit Gewalt und Armut im Alter nicht konfrontiert werden. Daher war es sehr wichtig, dass Sie, Frau Schildhauer, dieses Thema ans Tageslicht gebracht haben. Es war immer existent, es wurde aber kaum darüber gesprochen. 

Martina Schildhauer: Das Thema war peinlich – und viele Leute haben lieber weggeschaut, selbst wenn sie nicht betroffen waren. 

 

Hat sich inzwischen etwas getan? 

Kirsten Korte: Ja sicher, seit einigen Jahren wird Altersarmut viel ernster genommen. Ich kenne allein drei Vereine oder Stiftungen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Da ist ein gewisses Bewusstsein entstanden. Wir sollten aber mit dem Thema sensibler umgehen – und auf keinen Fall eine Schuldfrage aufwerfen. Meine Sorge ist es, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet, wodurch der soziale Frieden gefährdet ist. Der Ukraine-Krieg führt jetzt zu einer Energiekrise; die Energiepreise steigen drastisch, die Not wird größer. Oder die Preise für Lebensmittel … Das merken auch die Tafeln, die Bedürftigen immer weniger Lebensmittel zur Verfügung stellen können.  

 

Auf der anderen Seite sind Milliarden-Vermögen aufgehäuft worden. Brauchen wir nicht mehr Umverteilung von oben nach unten? 

Kirsten Korte: Es gibt in unserer Gesellschaft so einen großen Reichtum. Da sollte sich schon die Frage stellen, ob Vermögende mehr leisten könnten. Stiftungen sind da eine großartige Möglichkeit. 

 

Geschätzt gibt es über 350 Stiftungen in der Metropolregion Rhein-Neckar. Können Sie uns einen Überblick geben, welche Aktivitäten diese Stiftungen fördern? 

Kirsten Korte: Es ist in unserer Region nicht anders als in ganz Deutschland. Eine große Zahl der Stiftungen beschäftigt sich tatsächlich mit den Themen, die wir gerade angesprochen haben, etwa den sozialen Ausgleich. Genauso wichtig sind auch u.a. die Bereiche Bildung, Forschung und Wissenschaft. Es lässt sich einfach sagen: Stiftungen steigen da ein, wo andere aussteigen. Sie können Lücken schließen – gezielt, unbürokratisch und unkompliziert. 

 

Kultur und Sport spielen auch eine große Rolle? 

Kirsten Korte: Es gibt auch viele Stiftungen, die sich um Sport, Kunst und Kultur kümmern. Dabei lassen sich Themen verbinden, etwa Bildung und Kultur. Ganz klar: Die Kreativität der Kultur ist auch immer ein Teil von Bildung, weshalb viele Stiftungen nicht monothematisch aufgestellt sind, sondern ein breites Feld beackern. Diesen Trend sehen wir auch in unserer Region, genauso wie im gesamten Land.  

Etwas wurde aber in den letzten fünf Jahren mehr: Stiftungen zum Thema Umwelt! Das ist ein Gradmesser für die Relevanz gesellschaftlicher Themen. Vor 20 Jahren wurden Umweltpolitiker noch nicht so ernst genommen, heute sehen wir, wie das Eis am Nordpol schmilzt. 

 

Im Stiftungsnetzwerk wollen Stiftungen ihre Kräfte bündeln. Was heißt das für deren konkrete Arbeit? 

Kirsten Korte: Wir sind ganz am Anfang! Wir haben uns am 15. März zum ersten Mal getroffen – mit über 70 Stiftungen, was schon großartig war. Es lohnt sich, die verschiedenen Stiftungen an einen Tisch zu bekommen, von den kleinen bis zu den großen Stiftungen, von den kirchlichen Stiftungen bis zu den Bürgerstiftungen. Sie alle spielen einen wichtigen Part in der Gesellschaft und für die Entwicklung der Region.  

Zunächst geht es darum, sich gegenseitig kennen zu lernen. Wer beschäftigt sich mit ähnlichen Themen? Lässt sich etwas gemeinsam auf die Beine stellen? Vielleicht können wir gemeinsam mehr Power hineinbringen? Gerade bei Nischen-Themen wie der Altersarmut. 

Martina Schildhauer: Ein Transparenz-Register wäre sinnvoll, damit auch die Spender sehen, was die Stiftungen mit dem Geld machen, und vor allen Dingen wie sie damit umgehen. Genauer gesagt: Wieviel Geld landet von der gespendeten Summe wirklich direkt in der Hilfe? So ließe sich leichter die Spreu vom Weizen trennen. Generell stellt sich die Frage: Warum soll das Rad immer neu erfunden werden? 

Kirsten Korte: Das sehe ich auch so. Es ist sinnvoll, Wissen weiterzugeben, Erfahrungen auszutauschen. Zum Beispiel juristische Kenntnisse und Erfahrungen, Informationen, die jeder bei der Gründung einer Stiftung braucht. Aber auch Öffentlichkeitsarbeit für Stiftungen könnte gefragt sein, damit ihre Leistungen tatsächlich sichtbar werden – besonders ihr gesellschaftlicher Beitrag, von dem wir schon gesprochen haben. Wir könnten im Netzwerk z.B. einen eigenen Fonds bilden, um große Themen gemeinsam anzugehen … da ist viel Musik drin, und wir stehen wie gesagt ganz am Anfang. 

 

Interview: Ingo Leipner