Onlinekonferenzen können anstrengend sein. Oft kombinieren die Formate das Unbeliebte aus zwei Welten: Frontale Vortragssituationen, stockende Diskussionen, virtuelle Kaffeepausen ohne Kaffee und ohne interessante Gespräche. Auf der Shift Medical ist dies anders. Die virtuelle Konferenz zur medizinischen Anwendung von Extended Reality (XR) ist zugleich ein fachliches Schwergewicht, das auf begeisterte Zustimmung trifft.

Am Anfang stand der persönliche Austausch, den Dr. Lars Riedemann mit Gleichgesinnten initiierte. Ihn interessierten die Möglichkeiten, Virtual und Augmented Reality in der Medizin anzuwenden. Im Laufe weniger Monate fand sich eine bunte Online-Gemeinschaft aus Programmierern, Mitarbeitern großer Technikkonzerne, Medizintechnikern, Physio- und Sprachtherapeuten, Pflegern und Ärzten sowie Vertretern der pharmazeutischen Industrie und der Politik zusammen. Die kleine Gruppe von Enthusiasten ist mittlerweile zur größten dezentral organisierten Medical-XR-Community mit weltweit über 2.400 Mitgliedern angewachsen.

Für zielführende Diskussionen mit allen Mitgliedern wurde der Kreis irgendwann zu groß und in der Community wuchs der Wunsch, sich auf einer Konferenz auszutauschen. Damals gab es in Europa keine Veranstaltung zum Thema „Medical XR“, die den Anforderungen entsprochen hätte. Und so planten Lars Riedemann und seine Mitstreiter eine Fachtagung in Heidelberg. Dann kam Corona. Doch die Initiatoren ließen sich nicht entmutigen und entwickelten mit der Shift Medical 2020 die weltweit erste wissenschaftlich-medizinische Veranstaltung, die komplett in einer dreidimensionalen, virtuellen Umgebung stattfand.

Riedemann ist eigentlich kein IT-Fachmann, sondern Neurologe mit dem Schwerpunkt Hirntumore. Doch bereits als Zehnjähriger begann er auf dem C64 zu programmieren, hangelte sich über Webdesign weiter bis zu 3D-Visualisierungen. Das half ihm, die Shift Medical zu konzeptionieren. „Unsere Konferenz findet vollständig im virtuellen, dreidimensionalen Raum statt. Jeder Teilnehmer steuert dort einen frei personalisierbaren Avatar“, berichtet Riedemann. Man kann sich mit anderen Konferenzbesuchern unterhalten und mit ihnen interagieren. Und zwar nicht in einem Chat, sondern über einen speziellen Audiokanal, bei dem die räumliche Nähe der Gesprächspartner unter anderem die Lautstärke der Kommunikation beeinflusst. „Diese akustische Immersion fördert die soziale Interaktion“, erklärt der Mediziner: „Man muss auf jemanden zugehen, um mit ihm zu sprechen.“

Prinzipiell unterscheidet sich die Tagung erstaunlich wenig von herkömmlichen Präsenzformaten: In einem Auditorium mit bis zu 500 Zuhörern halten 75 Redner aus mehr als 15 Ländern ihre Vorträge, können Präsentationen und Videoeinlagen einspielen. Dann gibt es klassische Panel-Diskussionen, in denen die Avatare direkt miteinander und mit dem Publikum kommunizieren. Und bei Posterpräsentationen kann man sich in kleinen Gruppen vor einem virtuellen Poster zu Spezialthemen austauschen. Doch die Hauptstärke des Formats liegt darin, dass die Kommunikation so zwanglos wie auf Präsenz-Tagungen funktioniert. Zufällige Bekanntschaften zwischen zwei Tagungsteilnehmern sind ganz einfach möglich.

Shift-Medical-Mitorganisator Sebastian Smieja ist sich sicher, dass viele Menschen genau das an herkömmlichen virtuellen Konferenzen und ihren Kaffeepausen vermissen: „Es ist wie im richtigen Leben: Zwei Avatare unterhalten sich an einem Stehtisch über ein Thema, das mich interessiert. Ich gehe dazu und diskutiere mit. So bilden sich mitunter virtuelle Menschentrauben“, berichtet Smieja: „Tagung in einer VR-Umgebung klingt zunächst nach einem Videospiel und es gibt sicherlich starke graphische Anleihen. Es ist aber unglaublich beeindruckend, wie schnell man in diese Welt gezogen wird und wie natürlich man sich dann darin bewegt.“

Die Technik an sich gibt es bereits seit den 1970er Jahren. Anfang der 1990er Jahre wurde sie in Form von 3D-Spielen einem breiten Publikum bekannt. Die virtuelle Umgebung der Shift Medical beruht auf dem 3D-Client der TriCAT GmbH, einem Unternehmen aus Ulm. Doch die technische Plattform ist nur die halbe Miete. Denn hinter der Tagung steckt viel Organisationsarbeit. Mit dem Team seiner Agentur burnthebunny sorgt Smieja für einen reibungslosen Ablauf der Konferenz. „Eine solche Veranstaltung ist kein Selbstläufer. Das erfordert viel Expertise. Man muss sich wie bei jedem anderen Event intensiv mit dem Thema auseinandersetzen“, fasst der Kommunikationsexperte die vielfältigen Aufgaben zusammen. Ein Team von 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sorgt für die Gestaltung der Website, für Texte, Marketing und die Organisation der virtuellen Kongressumgebung selbst. Wie bei jeder normalen Konferenz komme es darauf an, die Menschen abzuholen und ihnen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein.

Und das ist den beiden Organisatoren gelungen: „Das Feedback, das wir von den Teilnehmern letztes Jahr bekommen haben, hat uns komplett umgehauen. Aus unserer virtuellen Tagung entstehen reale, transatlantische Kooperationen sowie konkrete Forschungsprojekte. Das zu beobachten, ist sehr schön“, berichtet Lars Riedemann. Neben dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Land Baden-Württemberg und verschiedenen Regulierungsbehörden beteiligten sich viele internationale Spitzen-Universitäten, Kliniken und Forschungseinrichtungen wie Harvard, Stanford und die Johns Hopkins University, aber auch Großunternehmen wie Amazon, Microsoft und Siemens an der Shift Medical.

Und bald kamen auch viele Anfragen von anderen Verbänden und Forschungsinstitutionen, die an dem Format interessiert waren und ähnliche Tagungen projektieren wollten. Dabei müsse man allerdings bedenken, so Smieja, dass der Organisationsaufwand einer virtuellen Konferenz genauso hoch wie bei einer Tagung in Präsenz sei und sich das Einsparpotenzial deshalb in Grenzen halte: „Was wegfällt, sind die Kosten für die Reise, die Übernachtung und die Verpflegung der Tagungsteilnehmer.“ Aber alleine das sei ja bereits klimaschonend.

Und auch vor digitalem Vandalismus ist man nicht gefeit, wie Lars Riedemann lachend erzählt: „In unserer virtuellen Umgebung kann man Objekte wie virtuelle Strandstühle und Kaffeebecher platzieren und verschieben. Das haben die Teilnehmer auch gemacht, die Sachen dann aber nicht mehr weggeräumt. Die Reinigung der virtuellen Kongress-Umgebung mussten wir spätabends selbst übernehmen.“

Fast alles wie im richtigen Leben also.

 

(Stefan Burkhardt, Bild: stock.adobe.com / kentoh)