Das derzeitige Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgelegt, stellt Ulrike Häußler fest. Sie ist Gemeinwohl-Beraterin im Mannheimer Unternehmen TeamWeitblick. Ziele wie „schneller, höher, weiter“ bestimmen das ökonomische Denken. Die Gewinnmaximierung steht dabei im Vordergrund –was jedoch nur wenigen zugutekommt. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen möglichst billig produzieren. In vielen Fällen wird dadurch die Umwelt belastet und Menschen werden ausgebeutet. Ein Todesurteil für Mensch und Natur? Was wäre, wenn Unternehmen nicht allein auf Wachstum und Profit ausgerichtet wären, sondern vorrangig soziale, gemeinnützige und Umweltschutzziele verfolgen würden?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Gemeinwohl-Ökonomie. Sie ist nach eigener Definition ein innovatives, nachhaltiges Wirtschaftsmodell mit dem Ziel einer ethischen Wirtschaftskultur. Dieses Modell soll die Wirtschaft, wie wir sie heute kennen, reformieren. Ziel ist es, von einer kapitalistischen, auf Wachstum und Profit ausgerichteten Wirtschaftsweise zu einem ökonomischen Modell zu kommen, bei dem das Gemeinwohl an erster Stelle steht. Als Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftsverständnis baut sie auf den Werten Menschenwürde, ökologische Verantwortung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz auf. Hinter der Gemeinwohl-Ökonomie steht die Überzeugung, dass die drängenden Herausforderungen unserer Zeit Folgen des Kapitalismus sind – von der Ressourcenknappheit über die Klimakrise, vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zur größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Diese Herausforderungen können nur ganzheitlich und systemisch gelöst werden.

 

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Gemeinwohl-Ökonomie

Entwickelt wurde das Konzept von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren in Bayern, Österreich und Südtirol. 2010 erschien dazu das Buch „Die Gemeinwohl-Ökonomie“ von Christian Felber. Es ist heute die Grundlage der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung. Sie umfasst weltweit 11 000 Unterstützerinnen und Unterstützer, rund 5000 Mitglieder in über 170 Regionalgruppen, über 1000 bilanzierte Unternehmen und andere Organisationen in 35 Ländern.

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Als nachhaltiges Wirtschaftssystem bietet die Gemeinwohl-Ökonomie eine Alternative mit konkreten Tools. Herzstück ist die Gemeinwohlbilanz. Sie fungiert als universal anwendbares strategisches Tool, an dem sich Organisationen, Unternehmen, Gemeinden, Bildungseinrichtungen oder NGOs orientieren können. „Das Tool ermöglicht es, eine Übersicht über das eigene Geben und Nehmen herauszuarbeiten, Reflektion anzuregen, eine Balance zu schaffen und dient im gleichen Zug auch Kunden zur Orientierung“, so Ulrike Häußler. Grundlage für die Bilanz ist die Gemeinwohl-Matrix. Diese besteht aus 20 Themenfeldern, die sich aus umfassenden Anspruchsgruppen und den festgelegten Werten ergeben. Insgesamt können 1000 Punkte erreicht werden, für gemeinwohlschädigendes Verhalten gibt es Minuspunkte. Die Gemeinwohl-Ökonomie gibt dafür Richtlinien vor. So sei es zum Beispiel wünschenswert, wenn das höchste Gehalt je nach Branche nur ein bis drei mal so hoch wäre wie das niedrigste.

Die Messung bezieht sich auf die Gruppen Hersteller, Lieferanten, Personal, Kundschaft, Unternehmensführung, Finanzpartner und auch das gesellschaftliche Umfeld. Dazu werden Faktoren wie nachhaltige Herstellungsprozesse, leistbare Preise und faire Entlohnung berücksichtigt. „Die vier Gemeinwohl-Werte – Menschenwürde, ökologische Verantwortung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz – sind damals deshalb ausgewählt worden, weil damit menschliche Beziehungen gelingen können“, so Häußler. „Wenn wir das gegenseitig leben, aus der Haltung heraus ,leben und leben lassen’, dann ist die wirtschaftliche Tätigkeit etwas sehr sinnvolles.“ Die Matrix sei ein gutes Werkzeug, um eine Nachhaltigkeitsstrategie zu erstellen und das Unternehmen nachhaltig auszurichten – vor allem weil sie das Potential biete, Unternehmen zum Nachdenken anzuregen. Welchen Sinn hat das Produkt, das hier vertrieben wird, für die Gemeinschaft? Was hat es für eine Zukunftsfähigkeit? Welche Bedürfnisse werden damit befriedigt? „Das heißt nicht, dass sie das automatisch tun – aber es ist schwieriger drum herum zu kommen und hilft, sich mit dem Essentiellen auseinander zu setzen“, führt Häußler aus.

Die Zusammenhänge können aus der Matrix erarbeitet werden. Die Gemeinwohl-Beraterin macht das an einem Beispiel deutlich: Viele Unternehmen denken, sie sind im Einkauf bestens aufgestellt – häufig ist dem aber nicht so, wenn man es genauer prüft. Ansprüche an Lieferanten werden durch Zertifikate immer höher; gleichzeitig werden Preise weiterhin gedrückt. Dies hat meist zur Folge, dass die Produktion nach China verlagert und dort nicht mehr kontrolliert wird. Ulrike Häußler sieht die Verantwortung neben den Unternehmen auch ganz klar bei den Konsumenten: „Wenn wir billig einkaufen, fördern wir als Endverbraucher diese Zustände.“

 

Wer zertifiziert?
Wie wird man also ein Gemeinwohl-bilanziertes Unternehmen? „Es ist hauptsächlich eine Selbsteinschätzung“, so Häußler, „das Handbuch und die Matrix können ganz einfach als Open-Source-Dateien im Internet bezogen werden“. Unternehmen können so ihre eigene Bilanz erstellen, diese mit einem Berater oder einer Beraterin durchführen oder mit anderen Unternehmen kooperieren. Das hat den Vorteil, dass man sich gegenseitig austauschen und branchenübergreifend voneinander lernen kann. Das Handbuch bietet verschiedene Bewertungsstufen, anhand derer herausgearbeitet wird, was man als Unternehmen erfüllt und was nicht. Und schon kann der Bericht veröffentlicht werden. Welche Aussagekraft hat aber eine solche Selbsteinschätzung? „Es ist häufig Standard, dass nicht zwingend überprüft wird. Das ist nicht nur in der Gemeinwohl-Ökonomie der Fall“, argumentiert Häußler. Es gebe dennoch die Möglichkeit, die Selbsteinschätzung durch ein externes Audit prüfen zu lassen. Die Beraterin sieht die Verantwortung nicht nur bei den Unternehmen: „Leider sendet die Politik und der Gesetzgeber zu wenig Signale. Wäre das Thema wichtig genug, würden andere Regeln aufgestellt.“

86 Prozent des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sprachen sich 2015 bereits dafür aus, die Gemeinwohl-Ökonomie in den Rechtsrahmen der EU zu integrieren. Einige Ökonomen und Wirtschaftskammern kritisieren jedoch mögliche Einschränkungen in Eigentums- und Freiheitsrechten, zudem könne das Modell nur funktionieren, wenn es sich weltweit durchsetzen ließe. Wettbewerb und Konkurrenz, somit also die bisherige Marktwirtschaft, würden den kritischen Stimmen zufolge abgeschafft. Ulrike Häußler sieht das Aufbrechen des bisherigen Wirtschaftssystems als nichts Negatives an. Die Gemeinwohlökonomie spricht von Mitunternehmen. Damit seien keine Monopole gemeint, im Sinne von: Es gibt nur noch einen Anbieter. „Mitunternehmen sind viel regionaler aufgestellt. Damit würden Lieferketten kürzer werden, die Versorgung besser und Kunden und Lieferanten würden sich wieder persönlich kennenlernen. Ein Gesamtüberblick entsteht“, so Häußler. Damit das überhaupt denkbar ist, stellt die Gemeinwohl-Ökonomie Forderungen an die Politik. Unternehmen, die ethisch handeln und so etwas zum Gemeinwohl beitragen, sollten belohnt werden. Denkbar wären steuerliche Vorteile, günstigere Kredite oder Vorrang im öffentlichen Einkauf und Handel. So könnten nachhaltige Dienstleistungen und Produkte günstiger verkauft werden. Hier setzt Ulrike Häußler an: „Ich komme aus dem Marketing und Produktmanagement, ich weiß wie es läuft. Bei jedem Produkt werden Verbrauchertests gemacht. Wenn es dort schlecht abschneidet, wird es nicht hergestellt. Mit unserer Verbrauchermacht, mit dem was wir tun und nicht tun, können wir viel bewegen.“

Stand in der Metropolregion
Wie sieht es mit dem Sinn für Gemeinwohl in der Metropolregion Rhein-Neckar aus? „Es gibt eine kleine Regionalgruppe der Gemeinwohl-Ökonomie in Rhein-Neckar, in der wir regelmäßig Aktionen organisieren“, so Häußler. Eines der zertifizierten Unternehmen ist die Mannheimer Steuerberatungskanzlei Heinrich. Neben dem offiziellen Logo der Bewegung kann man auch die Bilanz des Unternehmens auf dessen Website einsehen. „Uns ist Nachhaltigkeit wichtig, doch was können wir konkret dazu beitragen?“, heißt es von Seiten der Kanzlei. Diese Frage werden regelmäßig diskutiert, Ideen eingeworfen und viele davon umgesetzt. „So konnten wir durch Investitionen in neue Hardware und Telefonanlagen mit Konferenzsystem sowohl den Stromverbrauch als auch den Benzinverbrauch durch weniger Dienstreisen und Besprechungen bei Mandanten vor Ort enorm reduzieren“, so die Kanzlei. Desweiteren werden Schulungen für Mitarbeitende zur Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz angeboten, sowie Tipps hinsichtlich ökologischen Verhaltens nicht nur im betrieblichen Bereich, sondern auch im privaten Bereich.

In der Rhein-Neckar-Region sieht Beraterin Ulrike Häußler noch Luft nach oben. Anfragen zu Kooperationen oder Unterstützung von der Stadt Mannheim und Heidelberg verliefen im Sand. Auch hier plädiert sie auf Eigenengagement und Verantwortung. „Ich glaube, wir müssen uns erst einmal persönlich weiterentwickeln. Wir sind auf Wettbewerb getrimmt, das beginnt schon in der Schule. Wir selbst sollten dieses, schneller, höher, weiter’ hinter uns lassen und uns wieder mehr auf das Gemeinwohl besinnen. Wir müssen bei uns selbst anfangen“, meint Häußler. Denn, sind nicht alle großen Entscheider der Politik und Wirtschaft auch nur Menschen?

Von Sophia Zang (Illustration: artinspiring/stock.adobe.com)