Die Welt steht nicht mehr still, aber das früher gut geölte Getriebe der globalen Wirtschaft knirscht und quietscht. Lieferengpässe betreffen mittlerweile fast alle Branchen. Doch die Logistik arbeitet bereits daran, die Probleme zu lösen.

Es sind Bilder voller Widersprüchlichkeit: Während sich vor Los Angeles und Long Beach bis zu einhundert Schiffe stauen, herrschte wenige Wochen zuvor am Meishan-Terminal im chinesischen Hafenverbund Ningbo-Zhoushan gespenstische Ruhe – durch Corona! Zeitgleich drosseln deutsche Autobauer wegen eines Mangels an Halbleitern die Produktion, verlängern sich die Lieferfristen von Waschmaschinen, klagen Fahrradhändler über fehlende Bauteile, die Frankfurter Buchmesse über schwindende Papiervorräte. Keine Frage: Die Weltwirtschaft ist aus dem Takt geraten. Doch wie konnte es soweit kommen? Für erste Pegelschwankungen in den Warenströmen sorgten die Zollstreitigkeiten zwischen den USA, China und Europa. Dann kam Corona. Der Einbruch der Absatzmärkte sowie die Beschränkung und Schließung vieler Produktionsanlagen führten im eng geknüpften Logistiknetzwerk teilweise zum Strömungsabriss. Als mit dem Abklingen der Covid-Pandemie die Nachfrage schlagartig anzog und die Produktion wieder hochgefahren wurde, fehlten Waren, Halbfertigprodukte und Rohstoffe. Hinzu trat der logistische Supergau: Die havarierte Ever Given blockierte eine Woche das Nadelöhr Suezkanal. Nach Lösung der Blockade ergoss sich eine Flut an Containerschiffen in die Seehäfen. Die logistischen Knotenpunkte der Containerterminals sind noch immer überlastet, volle und leere Container stauen sich an beiden Seiten der Lieferkette. Vor Rotterdam warten Schiffe schon einmal 200 Stunden auf die Einfahrt. Ein Problem: Die Containerschiffe wuchsen in den letzten Jahren zu gewaltigen Ausmaßen.

Vier von fünf Unternehmen des mittelständischen verarbeitenden Gewerbes
beklagen laut einer KfW-Studie Lieferengpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten.

Sie haben mittlerweile bis zu 24 000 Container an Bord und es dauert drei bis fünf Tage, um ein solches Schiff abzufertigen. Umso stärker sind die Auswirkungen, wenn sich einer der Großtransporter verspätet. Bei Contargo ist das mittlerweile Alltag. Der Logistikdienstleister transportiert Waren in Containern mit Binnenschiffen und Güterzügen aus dem Hinterland zu den europäischen Seehäfen und zurück. „Während unsere Binnenschiffe in Ludwigshafen beladen werden, verschiebt sich der Ankunftstermin des Seeschiffs. Dann werden die Container im Seehafen nicht akzeptiert. Und die Reedereien akzeptieren weiterhin Buchungen, obwohl sie um die Schwierigkeiten wissen“, berichtet Andreas Roer, Geschäftsführer der Contargo Rhein-Neckar GmbH. An den Contargo-Terminals stapeln sich die Container dort, wo sie eigentlich verladen werden sollten. „Eine solche Gemengelage habe ich in dieser Komplexität in 22 Jahren Berufserfahrung noch nicht erlebt“, schildert Andreas Roer die verfahrene Situation. Und zugleich steigen die Frachtraten: „Früher kostete die Miete eines Containers nach Asien 1500 Dollar, heute sind wir bei über 15 000 Dollar.“ Auch Sebastian Herr kennt diese Zusammenhänge: „Wenn es Engpässe in den amerikanischen Häfen bei der Entladung der Schiffe gibt, hat das Auswirkungen auf die Abwicklung der Produktionsprozesse im asiatischen Raum. Das kann dann eben auch die Versorgung Westeuropas mit Weihnachtsartikeln betreffen“, fasst der Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule Worms die Verbindungen zusammen. Und so fehlen Waren: Von der FRITZ!Box bis zur Playstation 5. Vom neuen Wanderschuh bis zur Winterkollektion, vom Reißverschluss bis zur Öse, von der Kerze bis zum Buch. „Die Situation der Industrie in der Region ist derzeit noch gut, die Erwartungen trüben sich aber ein“, stellt Mario Klein, Bereichsleiter Handel, Steuern, Konjunktur, Stadtentwicklung bei der IHK Rhein-Neckar, fest.

Einzige Ausnahme sei der Fahrzeugbau, der durch den Chipmangel stark betroffen sei. Doch vier von fünf Unternehmen des mittelständischen verarbeitenden Gewerbes beklagen laut einer KfW-Studie Lieferengpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten: Neben den berüchtigten Mikroprozessoren betrifft dies Stahl, Kupfer, Aluminium, Magnesium und andere Metalle, Kunststoffe, Papier und Holz. Darüber hinaus erhöhen viele Händler ordentlich die Preise, von 10 bis 15 Prozent Aufschlag ist die Rede. Und ebenso sind die Energiepreise stark gestiegen. Diese Preiserhöhungen werden entlang der Wertschöpfungskette weitergereicht und landen am Schluss beim Verbraucher. All das führt bei den betroffenen Unternehmen zu einem erhöhten Arbeitsaufwand, zu Beeinträchtigungen bei Produktion und Dienstleistungen sowie zu Lieferverzug gegenüber Kunden. Nach Schätzungen des ifo Instituts ging dem Verarbeitenden Gewerbe so eine reale Wertschöpfung im Umfang von bis zu 38 Milliarden Euro verloren. Das entspricht etwas mehr als einem Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung eines Jahres in Deutschland. „Speziell die Industrie klagt über Probleme in den globalen Lieferketten, hohe Logistikkosten und ungeklärte Handelsstreitigkeiten. Sie belasten das wichtige Auslandsgeschäft“, berichtet Mario Klein.

Die Industrie in der Rhein-Neckar-Region hat eine Exportquote von 61 Prozent. Und falls es beim Export stockt, bedeutet dies nicht nur viel gebundenes Kapital, das sich zusammen mit Umsatzausfällen schon zur finanziellen Schieflage summieren kann. „Wenn es in Unternehmen der Region zu Unterbrechungen und Werksschließungen kommt, dann hat das auch Auswirkungen auf die vorgelagerten Betriebe“, ergänzt Sebastian Herr: „Die Anpassung der logistischen Prozesse kostet Ressourcen, die zulasten der Effizienz und der Produktivität gehen. Das macht es schwierig, die Dinge wieder in den Takt zu bringen.“ Aber das ist die Hauptaufgabe der Logistiker. Sie stehen mittendrin im prallen Wirtschaftsleben, manchmal mehr, als ihnen lieb ist. Und so begannen die Fachleute bereits beim ersten Stocken des Warenstroms, alternative Lieferketten zu verfolgen, benachbarte Netzwerke zu nutzen, mit Unternehmen über die Umstellung ihrer Produktion – Masken statt Hemden – zu sprechen und Puffer einzubauen. Gerade der Aufbau von Lagerbeständen führt jedoch oft zum berüchtigten bullwhip effect: Bestellungen beim Lieferanten neigen zu größeren Schwankungen als Verkäufe an den Kunden und weichen damit von der Nachfrage ab. Diese Abweichungen schaukeln sich dann in vorgelagerter Richtung der Lieferkette auf.

Geduldsfaden strapaziert

Und am anderen Ende der Supply-Chain schwindet das Vertrauen der Kunden. Noch liegt die akzeptierte Lieferverzögerung bis zur Stornierung einer herkömmlichen Bestellung laut der aktuellen Oracle-Studie „Disruption im Management der globalen Lieferketten“ bei fünf Tagen. Die Lieferfrist vieler Produkte beträgt jedoch bereits Monate, mitunter sogar Jahre. So wird der ohnehin bereits nicht allzu stark ausgeprägte Langmut vieler Kunden durch die Trabi-gleichen Wartezeiten bei Neu- und Gebrauchtwagen sowie Fahrrädern ordentlich strapaziert. Der Kundendienst registriert bei Vertröstungen zunehmendes Unverständnis und geharnischte Forderungen nach mehr Engagement. Wie lange wird diese krisenhafte Lage noch anhalten? „Bis sich die Lieferengpässe auflösen, dürfte es dauern. Ich gehe aber davon aus, dass sich die Materialknappheit im Laufe der kommenden Monate zumindest etwas entschärft. Nachholeffekte können dann im kommenden Jahr einen Impuls für einen neuen Wachstumsschub geben“, prognostiziert Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW. Sobald der Stau vor den Containerterminals abgebaut ist, könnten sich auch die logistischen Prozesse einer globalen Wirtschaftsverflechtung wieder einspielen. Viel kommt aber darauf an, wie nahtlos die Weltwirtschaft an die vor Corona etablierte Arbeitsteilung und die entsprechenden Lieferketten anschließen kann.

Zweifel sind erlaubt: „Grundsätzlich fehlt den Unternehmen der Planungshorizont“, gibt Mario Klein zu bedenken: „Unsicherheiten gibt es immer, doch in der derzeitigen Lage gleicht der Blick auf die nächsten fünf Jahre einem Blick in die Kristallkugel“. Da ist zum einen der weitere Verlauf der Covid-Pandemie. Zum anderen intensivieren sich die Diskussionen um die CO2-Emissionen des Warenverkehrs, die eine reine Fixierung auf Fertigungs- und Lieferkosten nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch unter Berücksichtigung der Total Cost of Ownership wirtschaftlich nicht mehr tragfähig erscheinen lässt. Hinzu treten Abschottungstendenzen und politische Friktionen im ostasiatischen und südostasiatischen Raum, Personalmangel im Transportwesen sowie die erheblich erweiterten Möglichkeiten des 3D-Drucks und der digital vernetzten Fertigung, die ein Re-Shoring attraktiver erscheinen lassen. Es gibt viel zu tun. „Unternehmen müssen ihre Prozesse resilienter gestalten, ihre Sourcing-Strategien überdenken und den Einkauf auf breitere Beine stellen, damit sie in Fällen wie der gegenwärtigen Pandemie flexibel reagieren können. Das sollte die Bildung von Pufferlagern umfassen oder den Aufbau alternativer, kürzerer Lieferketten“, fordert Manuel Pfenning, Geschäftsführer der pfenning logistics group in Heddesheim: „Um hier ein individuell zugeschnittenes Konzept abzubilden, bei dem auch kurzfristige Veränderungen und Lastspitzen aufgefangen werden, bedarf es einer professionellen Beratung.“ Eine eingehende Beschäftigung mit den eigenen Produkten und den benötigten Rohstoffen kann dazu dienen, regionale Kreisläufe – zum Beispiel beim Verpackungsmaterial – zu etablieren und Produktionskapazitäten in Europa aufzubauen, die teurer sind, aber mehr Sicherheit geben.

Und effizientere Logistiksysteme, die die Warenströme über eine End-to-End-Visibility noch engmaschiger überwachen, können dabei helfen, bessere Analysen und Vorhersagen über Engpässe zu treffen. Bei pfenning logistics denkt man bereits einen Schritt voraus: „Anwendungen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz sind wichtige Stellschrauben, um physische Prozesse besser zu gestalten und digital steuern zu können“, weiß Geschäftsführer Manuel Pfenning. Ein entsprechendes Pilotprojekt ist in Heddesheim bereits in Planung.

Doch ebenso muss wohl den Konsumenten vermittelt werden, dass die Zeit des weltweiten „Heute-mit-einem-Click-bestellt-und-morgen-geliefert“ vorerst vorbei ist. „Die Knappheit wird in vielen Branchen zur neuen Realität“, resümiert Mario Klein. Das muss keine neue Zeit der Not sein, wie im ersten Lockdown bei Toilettenpapier und Desinfektionsmitteln. Aber es schadet wohl nichts, weiterhin vorausschauend zu planen, Maß zu halten und geduldig zu sein. Und das ist übrigens auch gut fürs Klima.

Stefan Burkhardt

Bildquelle: Pixabay