Alle reden von der Verkehrswende, keiner sieht den Rhein vor der Tür“, wundert sich Prof. Dr. Michael Schröder. Er ist Wissenschaftlicher Leiter des Masterstudiengangs „Supply Chain Management, Logistics, Production“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) und lehrt in Mannheim. „Wenn die Bahn so dicht ist, warum nicht aufs Wasser gehen? Wir haben Rotterdam als Wohnzimmer quasi nebenan“, fragt sich der Logistik-Experte. Große Unternehmen der Region wie John Deere oder Heidelberger Druckmaschinen nutzen schon seit Jahrzehnten die Wasserstraße.
„Ich gehe davon aus, dass sich der Transport von Containern auf dem Rhein verdoppeln ließe“, sagt Prof. Schröder. Für die Häfen in Mannheim und Ludwigshafen gilt: 2022 transportierten Schiffe rund zehn Prozent der gesamten Tonnage in Containern. In ganz Deutschland waren 190 Millionen Container per Binnenschiff unterwegs, 80 Prozent entfallen dabei auf den Rhein. Wäre eine Verdopplung der Container-Tonnage möglich? Die Hafenverwaltung Mannheim antwortet klar und deutlich: „Sicher! Das Binnenschiff ist derzeit das einzige Verkehrsmittel mit erheblichem Zuwachspotential.“ Und Prof. Schröder ergänzt: „Ein modernes Binnenschiff kann auf dem Rhein knapp 200 40-Fuß-Container transportieren, was 200 Lkw entspricht.“
Doch diese Potenziale sind noch zu heben, was auch Franz J. Reindl zu erkennen gibt. Dem Online-Magazin „Wo sonst“ sagte der Geschäftsführer der Hafenbetriebe Ludwigshafen: „Es wird unterschätzt, was der Hafen für die Stadt wirtschaftlich bedeutet. […] Allein bei uns in Ludwigshafen werden rund acht Millionen Tonnen Güter umgeschlagen, was etwa 2000 Lkw pro Tag entspricht.“ Ludwigshafen hatte mit Mannheim 2022 einen Güterumschlag von über 13 Millionen Tonnen.

Lufbild: Blick auf den Kaiserwörthhafen in Lufwigshafen am Rhein.

„Die aktuellen Zahlen belegen die Bedeutung der Binnenhäfen in der Metropolregion Rhein-Neckar. Die Häfen sind nicht nur das ‚Tor zur Welt‘ für Import- und Exportgüter. Sie bieten der regionalen Wirtschaft ein umweltschonendes Logistikangebot“, kommentiert Uwe Köhn, Hafendirektor in Mannheim. „Die Binnenhäfen stehen damit für Arbeitsplätze, regionale Produktion, Handel und die sichere Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Gütern und Energie.“
Gegenüber dpa zog Köhn auch einen Vergleich beim CO₂-Ausstoß: Je transportierter Tonne käme das Schiff auf 30 Gramm, der Lastwagen liege bei 110 Gramm – nur die Bahn schneide günstiger ab, mit 17 Gramm. „Unser Motto muss sein: So viel Binnenschiff und Schiene wie möglich – und so viel Lkw wie nötig.“ Vor diesem Hintergrund stellt Köhn fest: „Die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf das Schiff und die Bahn wird hier [im Hafen] seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert.“
Das stimmt wohl für die Mannheimer Verhältnisse, doch die Statistik für ganz Deutschland spricht eine andere Sprache … Womit das leidige Thema der Zahlen beginnt. Logistik bildet sich vielfältig in Mathematik ab, doch Zahlen können gerade Laien verwirren. Oder was mag es bedeuten, dass über 13 Millionen Tonnen in beiden MRN-Häfen umgeschlagen wurden? Sicher eine schwindelerregende Zahl … Aber: Wie lässt sie sich in ein Gesamtbild einordnen? Steht diese Zahl für viel oder wenig Transport auf dem Wasser?
Dazu lohnt es sich, die Website des Umweltbundesamt (UBA) zu besuchen. Die Behörde hat viel Datenmaterial zur Logistik aufbereitet. Zunächst ein Blick auf absolute Zahlen, denn sie spiegeln die Gütermengen in Deutschland wider, die von Binnenschiffen bewältigt wurden:

  • 1950: 51,9 Millionen Tonnen
  • 2007: 249 Millionen Tonnen (größte Menge nach dem Krieg!)
  • 2022: 182,5 Millionen Tonnen

Was ins Auge sticht: die rapide Abnahme der Tonnage zwischen 2007 und 2022, obwohl es in Ansätzen eine Debatte zum Klimaschutz gab. Das war ein Rückgang um 66,5 Millionen Tonnen, was 26,7 Prozent entspricht. Das heißt: Trotz aller politischen Rhetorik verliert die Binnenschifffahrt in 15 Jahren über ein Viertel ihrer Tonnage. Politikversagen!
Prof. Schröder kommt zu einem differenzierteren Urteil: „Diese Zahlen sind zu pauschal, weil die Güter auf dem Wasser sehr unterschiedlich sind. Der Rückgang seit 2007 hat viele Gründe. Nicht zuletzt ist die Welt der Onlineshops mit ihren Stückgütern nicht an Wasserstraßen anschlussfähig.“ Es sei aber wichtig, der Politik klarzumachen, „dass es Potenziale gibt, und die Binnenhäfen in der Langstrecke als Zugang zum Hinterland zu sichern sind, als sogenannte Gateways.“ Übrigens: Das UBA verweist noch auf die „Niedrigwasserereignisse“, die in den letzten Jahren die Verkehrsleistung der Binnenschiffe schwanken ließen. Eine Strategie gegen den Klimawandel wird selbst Opfer des Klimawandels.
Wo Tonnage verloren geht, muss es auch Gewinner geben: Lkw-Transporte! Um das zu verstehen, kommt eine nicht so bekannte Einheit ins Spiel, der Tonnenkilometer (siehe Kasten). Sie misst die Transportleistung. Laut UBA stieg dieser Indikator von 1991 bis 2019 um 75 Prozent. Den größten Zuwachs erlebte der Lkw-Verkehr – mit einem Plus von 103 Prozent! Damit hat sich seine Transportleistung mehr als verdoppelt.
Dieses enorme Wachstum fand auf Kosten von Bahn und Binnenschiffen statt, deren Anteil 1991 bei etwa 34,5 Prozent lag. 2019 waren es noch 26 Prozent, was einem Rückgang um 25 Prozent entspricht (Schienengüterverkehr: 18,9 Prozent, Binnenschifffahrt: 7,2 Prozent).
Diese Zahlen passen zum Verlust an Tonnage auf dem Wasser (- 26,7 Prozent). Wieder bleibt nur ein Versagen der Politik zu konstatieren, weil sie diesen Entwicklungen tatenlos zugeschaut hat. Der Staat darf zwar nicht in die operativen Entscheidungen der Unternehmen eingreifen, welche Form von Transport sie wählen. Aber heute könnte die Schiene ihren festen Platz in der Transportplanung haben, wäre die Bahn gestärkt worden, etwa durch günstige Gleisanschlüsse. Das gilt auch fürs Wasser, wenn die Binnenhäfen konsequent ausgebaut worden wären.
Wie sieht zwischen 1991 und 2019 der Umwelteffekt aus? Beim UBA schwankt der zeitliche Bezugsrahmen etwas, was die Daten nicht unmittelbar vergleichbar macht. Doch der Zeitraum 1995 bis 2020 ist ziemlich deckungsgleich mit der vorherigen Zeitachse des UBA (1991 bis 2019). Ergebnis: Ab 1995 sinken für den einzelnen Lkw die CO₂-Emissionen um 32,6 Prozent, was an einer höheren Kraftstoff-Qualität und besseren Motoren liegt. Entwarnung? Nein …
bwohl die Effizienz deutlich zugenommen hat, steigt der absolute CO₂-Ausstoß im Straßengüterverkehr erheblich – von 39,3 auf 45,9 Millionen Tonnen, was 17 Prozent entspricht. Die Einsparungen je Lkw werden überkompensiert, weil es zu einer gewaltigen Zunahme des Lkw-Verkehrs gekommen ist. Die Wissenschaft nennt das „Bumerang-Effekt“. Diese Zahlen zeigen, wie technischer Fortschritt nicht automatisch die Situation verbessert. Und: Warum Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) wohl ein Interesse hatte, ein spezifisches Reduktionsziel für den Sektor Verkehr wegzuverhandeln. Der CO₂-Trend wird bei wachsendem Lkw-Verkehr weiter steil nach oben gehen … Denn kurzfristig sind Alternativen zum Diesel als Treibstoff nicht in Sicht – trotz vieler Feldversuche in Sachen Elektromobilität oder Brennstoffzelle. Nicht gut für eine Minister-Karriere.


Save the Date: Hafenforum Mannheim/ Ludwigshafen am 26. Juni 2023

Die Metropolregion Rhein-Neckar ist sehr gut an die Wasserstraßen Rhein und Neckar angeschlossen, wozu die zwei Binnenhäfen Mannheim und Ludwigshafen erheblich beitragen. Diesen Standortvorteil wollen die IHK Rhein-Neckar und IHK Pfalz erhalten. Sie laden daher zum Hafenforum ein:

  • 26. Juni 2023, 13 bis 17 Uhr
  • Gesellschaftshaus der BASF, Festsaal, Wöhlerstraße 15, 67063 Ludwigshafen

Der vollständige Titel der Veranstaltung lautet: „Binnenhäfen der Zukunft – zwischen Verkehrswende, Hinterlandanbindung und Wohnen am Wasser“.
Bei diesem Hafenforum sollen die Binnenschifffahrt und die Hafenstandorte im Mittelpunkt stehen, wobei unter anderem zwei Themen zu diskutieren sind: Flächennutzungskonflikte und der stockende Ausbau der Infrastruktur. Auch die Politik ist hochrangig vertreten: Die Verkehrsminister Winfried Herrmann (Baden-Württemberg) und Daniela Schmitt (Rheinland-Pfalz) haben ihr Kommen zugesagt.


Bleibt der Umstieg auf Bahn und Schiff. Doch da zeigt die Statistik klare Grenzen auf, wie Prof. Schröder mit Zahlen vom Statistischen Bundesamt belegt: „79 Prozent aller Lkw-Transporte finden innerhalb von 150 Kilometern statt, etwa bei der Belieferung des Einzelhandels.“ Auf eine Distanz zwischen 151 und 500 Kilometer entfallen 18 Prozent, und bei einer Entfernung über 501 Kilometer ergibt sich ein Anteil von drei Prozent. Das bedeutet: Aus ökonomischer Rationalität liegt das Potenzial zur Verlagerung gerade bei 21 Prozent! Der Logistik-Experte stellt pragmatisch fest: „Der Treiber unseres Wohlstandes ist der Lkw, es gibt eben keinen Edeka mit Gleisanschluss oder Kaimauer.“
In dieser verzwickten Situation fordert Prof. Schröder einen „systemischen Blick“. In den 1990er Jahren erklärte die BWL umfangreiche Lagerbestände zum „Todfeind“ der Unternehmen, so der Logistik-Experte. Zu große Bestände verursachen hohe Lagerkosten und binden Kapital, eben „totes Kapital“. Also reduzierten die Betriebe ihre Fertigungstiefe, wobei sie die Lagerbestände radikal abbauten – und die rollenden Lager auf den Autobahnen richtig in Fahrt brachten. Das Konzept „Just in time“ trat seinen Siegeszug an. Betriebswirtschaftlich genial, volkswirtschaftlich fragwürdig, sobald „Negative Externe Effekte“ in die Kalkulation einfließen (zum Beispiel: CO₂-Emissionen, Unfälle oder Verkehrsstaus).
Fazit: Und heute? In der neuen Epoche der „Zeitenwende“? Alte Gewissheiten bröckeln, seit die gegenwärtigen Krisen globale Lieferketten gesprengt haben. Plötzlich ist es ein Zeichen von Resilienz, höhere Lagerbestände zu kalkulieren, damit Produktion und Verkauf nicht zum Stillstand kommen – durch exogene Schocks, die unerwartet auftreten. Prof. Schröder: „Es wäre möglich, durch eine Rückbesinnung auf stärkere Lagerhaltung das Outsourcing Richtung Straße zu reduzieren, denn das würde wieder größere Anliefermengen bei weniger Anlieferungen erlauben.“
Das erfordert aber einen tiefen Mentalitätswandel. Ein völlig neues Mindset ist nötig, damit sich die Logistik wirklich an Prinzipien der Nachhaltigkeit orientiert. Das zeigen die vielen Zahlen, die ein Spiegel der Realität darstellen. Konsequenz: Das verschüttete Potenzial der Binnenschifffahrt ist dringend zu reaktivieren. Die absolut notwendigen Binnenhäfen sind zu schützen. Die Dominanz der Lkw auf der Langstrecke ist zu brechen. Dazu braucht Deutschland eine mutige Verkehrspolitik, die sich nicht von Beharrungskräften ausbremsen lässt.

Text: Ingo Leipner; Bilder: Uwe/stock.adobe.com; Bernhard Zinke