60 Prozent der Studierenden im Fach Medizin sind Frauen. Doch bei den Chefärzten sinkt der Frauenanteil auf zehn Prozent. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Über Berufungen entscheiden fast immer Männer. Man stellt sich diese Fragen bei einer Bewerberin: Wie sieht der familiäre Hintergrund bei ihr aus? Wie lange wird sie noch in das Familiengeschehen eingebunden sein? Wer eine Stelle als Chefärztin annimmt, darf sich um keine Kinder mehr kümmern müssen. Unter diesen Bedingungen ist es nicht erstaunlich, dass wir in Deutschland nur zehn Prozent Chefärztinnen haben. 

Sehen Sie eine Lösung des Problems? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Mehr Chefärztinnen werden nur in den Krankenhäusern arbeiten, wenn Männer bereit sind, in die Kinderbetreuung einzusteigen.  

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Die Runnebaum-Stiftung 

Gerade alleinerziehende Akademikerinnen sind auf Einkommen angewiesen. Sie befinden sich bei Studium, Promotion und Berufseinstieg durch belastende Arbeitszeiten in einer schwierigen Situation. Vor diesem Hintergrund gründeten 2008 Dr. Hedwig Runnenbaum und ihr Mann Prof. Dr. Dr. Benno Runnebaum die „Runnebaum-Stiftung“, die sie aus eigenen Mitteln finanziell ausstatteten. Ihre eigenen Erfahrungen mit Familie und Beruf regten das Ehepaar an, hochqualifizierte Akademikerinnen beim Einstieg in das Berufsleben zu unterstützen. 2011 erweiterte die „Runnebaum-Stiftung“ ihr Engagement, um Frauen und Mädchen in Indien eine bessere medizinische Versorgung zu ermöglichen. Seit 2017 unterstützt die Stiftung auch Mädchen aus Lepradörfern in Myanmar, um ihnen nach der 4-jährigen Grundschulzeit einen weiteren Schulbesuch zu ermöglichen.  

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Männer sollen auf ihre Karriere verzichten, um Kinder zu betreuen?  

Dr. Hedwig Runnebaum: Nein, niemand soll auf Karriere verzichten. Das ist ja auch individuell ganz verschieden: Der eine Mensch ist eine Führungspersönlichkeit, der andere hat andere Stärken. Das gibt es auch in der Ehe (lacht). Ich bin für eine Gleichberechtigung, aber bitte für beide Geschlechter. Es muss selbstverständlich sein, dass Männer genauso wie Frauen häusliche Tätigkeiten und Erziehungsaufgaben übernehmen.  

Doch die Realität sieht häufig anders aus, oder? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Mein Mann ist Gynäkologe und hatte unter seinen Mitarbeitern einige Frauen, die hochbegabt waren. Es waren Gynäkologinnen, die an ihrer Dissertation gearbeitet haben. Diese Frauen hat er immer gefragt: Wollen Sie sich nicht habilitieren? Doch manche Frau antwortete, ihr Freund möchte, dass sie mehr zu Hause bleibt. Auch wenn wir das Medizin-Studium anschauen, sehen wir, dass es mehr weibliche als männliche Studierende gibt. Später ändert sich das deutlich: Viele Frauen bekommen Kinder und treten beruflich in den Hintergrund. Daher fördern wir mit unserer Stiftung gezielt Frauen. 

Gleichberechtigung gibt es oft nur auf dem Papier? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Bei aller Gleichberechtigung sind Frauen immer noch limitiert, weil sie Kinder zur Welt bringen. Ihnen wird als Aufgabe auferlegt: Du musst die Kinder erziehen, Du hast ständig für sie da zu sein. Das ist nicht die Aufgabe des Mannes, obwohl auch einiges in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist. Aber das reicht nicht aus! Dieses Thema sollte schon in den Familien und in der Schule eine Rolle spielen. Es gibt aber in der Medizin einen positiven Trend, den mein Mann beobachtet hat: Als er in die „Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie“ eingetreten ist, waren 20 Prozent der Mitglieder Frauen. Heute sind es knapp 70 Prozent – und aus dieser Gruppe werden auch mehr Führungspositionen besetzt. So sieht es in der Medizin besser aus als in der Wirtschaft. 

Was beobachten Sie in Unternehmen? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Unsere Stiftung ist nicht direkt in der Wirtschaft tätig, aber auch auf diesem Feld der Gesellschaft gibt es viel zu tun! In Unternehmen müssten mehr Frauen in Führungspositionen kommen, was in vielen Situationen von Vorteil wäre. Frauen ticken einfach anders als Männer. 

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Jenseits der gläsernen Decke 

„Die Hälfte der Menschheit ist weiblich. Doch in den Boards, Aufsichtsräten und Vorständen der Welt beträgt der Frauenanteil nur ein Fünftel – oder genauer gesagt 19,7 Prozent“ – das schreibt die Unternehmensberatung Deloitte in ihrer globalen Studie „Women in the boardroom“: „Ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Missstand, der oft mit dem Bild von der gläsernen Decke umschrieben wurde: Eine auf den ersten Blick unsichtbare, aber wirksame Barriere bremst den gleichberechtigten Aufstieg hochqualifizierter Frauen in die höchsten Führungsebenen. Zwar haben Unternehmen und Regulatoren in den letzten Jahren stetig daran gearbeitet, diese Barriere durchlässiger zu machen – es gibt echten Fortschritt. Dennoch vollzieht sich dieser nach wie vor zu langsam.“ Daher stellt Deloitte fest: „So würde es bei der aktuellen Zuwachsrate des Frauenanteils bis 2041 dauern, in Aufsichtsräten und Vorständen Parität zwischen Frauen und Männern zu erreichen.“  

Quelle: https://www2.deloitte.com/de/de.html 

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Wie kommen mehr Frauen an die Spitze? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Indem wir Quoten einführen! Wir brauchen mindestens 30 Prozent Frauen in Führungspositionen. Dazu sollten natürlich auch qualifizierte Frauen vorhanden sein, wobei die Erziehung die Grundlage legt. In unserem Land werden Mädchen immer noch anders erzogen als Jungen. Da bin ich meiner Mutter ewig dankbar: Solche Unterschiede hat sie nicht gemacht. Mein Vater wollte nicht, dass ich studiere. Meine Mutter hat aber gesagt, Mädchen und Jungs haben bei uns dieselben Rechte. Tatsächlich war es so, dass die Mädchen zur Universität gegangen sind – und die Jungs nicht! 

Sind in der Medizin die Aufstiegschancen für Frauen größer als in der Wirtschaft? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Ich denke ja, das würde ich so einschätzen. Auch die oft beschriebene gläserne Decke ist in Kliniken durchlässiger als in Unternehmen. Vor Jahren war das anders: Als junge Frau war ich unter den Laborärzten eine Exotin. Doch heute läuft das in der Medizin besser.  

Sie sahen sich ja auch diesem Spagat ausgesetzt – Familie und Beruf. Wie haben Sie das damals geschafft? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Die Familienplanung war für mich abgeschlossen. Die Kinder waren zwar zum Teil noch schulpflichtig, aber ich hatte mein Labor neu in Eppelheim gegründet. Da fängt eine Laborärztin erst einmal im kleinen Maßstab an. Als das Unternehmen wuchs, waren die Kinder schon im Studium. Das war eine kontinuierliche Entwicklung, bis zu einer mittelgroßen Laborpraxis: 120 Mitarbeiter führten vielfältige Untersuchungen durch, lediglich an Proben von Menschen. Wir deckten das gesamte Feld der Labormedizin ab, bis auf die Genetik. 


„Frauen gehören an jeden Ort, an dem Entscheidungen gefällt werden!“ 

Ruth Bader Ginsburg (1933–2020), Richterin am US-amerikanischen Supreme Court.
 

 

Wie fördern Sie Frauen mit Ihrer Stiftung? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Wir haben uns hauptsächlich auf Frauen konzentriert, von denen wir glauben, dass sie für Führungspositionen geeignet sind, sowohl im medizinischen als auch naturwissenschaftlichen Bereich. Diese Frauen haben wir auf wissenschaftlichen Kongressen unterstützt, wenn sie dort ihre Arbeiten vortragen wollten. Dazu prüften wir ihre Forschung und die geplanten Vorträge. Das machten mein Mann und ich gemeinsam, dann zahlten wir zum Beispiel die Reise zur Tagung. 

Doch Corona hat Ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht?  

Dr. Hedwig Runnebaum: Ja, leider. Wissenschaftliche Kongresse finden fast nur noch online statt. Daher konnten wir in den letzten zwei Jahren nicht eine einzige Förderung gewähren. 

Ab einem Betrag von 1.000 Euro beteiligen Sie den Spender an der Entscheidung, wie Ihre Stiftung das Geld verwendet. Wie machen Sie das in der Praxis? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Wer sein Geld zum Beispiel in die Ukraine-Hilfe fließen lassen will, kann uns das sagen. Eine Heidelberger Firma hat jetzt unserer Stiftung einen größeren Betrag zugesagt – und sie wollte das Geld gezielt für die Ukraine spenden. 

Chancengleichheit ist Ihr Leitgedanke, ob in Deutschland oder Indien. Wie engagieren Sie sich im indischen Bundesstaat Rajasthan? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Dort finanzieren wir regelmäßig eine Krankenschwester, die auf dem Land unterwegs ist und Frauen und Kinder versorgt. Wir konnten ihre wertvolle Arbeit vor Ort erleben. Sie hatte das Auto mit Medikamenten vollgeladen, um Wunden, Infektionen u. a. behandeln zu können. Übersteigt aber ein gesundheitliches Problem ihre Kompetenz, überweist sie ihre Patienten in ein Krankenhaus. Denn indische Frauen scheuen sich, spontan eine Klinik aufzusuchen.  

Was ist dafür die Ursache? 

Dr. Hedwig Runnebaum: In Indien wird keine Gleichberechtigung praktiziert. Wir haben das erlebt im Gesundheitscamp: Frauen hatten ihre Kinder auf dem Arm, sie saßen zusammen und tauschten sich über ihre Krankheiten aus. Im Hintergrund standen die Ehemänner, die genau hören wollten, was die Frauen der Krankenschwester und uns Medizinern berichtet haben. 

Haben Sie sich auch um konkrete Notfälle gekümmert? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Wir lernten ein 12-jähriges Mädchen kennen, das eine schwere Augenverletzung hatte, weil sie in einen Stacheldraht gefallen war. Das Auge musste operiert werden, und die Familie hatte kein Geld. Also haben wir die Kosten übernommen und dafür gesorgt, dass das Mädchen sofort in eine Klinik gekommen ist. Es kann jetzt wieder vollständig sehen. Oder unsere Begegnung mit einer hochschwangeren Frau, die schon zwei Fehlgeburten hatte. Sie sollte untersucht werden, was mein Mann als Gynäkologe hätte übernehmen müssen. Aber die Frau hat sich dagegen gewehrt; ich als Frau sollte sie anschauen. Doch ich bin keine Gynäkologin, in meinem Berufsleben habe ich gerade einmal zwei bis drei Geburten begleitet. Doch unsere Krankenschwester gab mir einfach ein Hörrohr, kein Stethoskop! Und mein Mann stand vor der Türe und stellte Fragen: Wie liegt das Kind? Wie hörst Du die Herztöne? Das habe ich ihm dann beschrieben: tack, tack, tack … Darauf sagte er: Alles in Ordnung! Später brachte die Frau ein gesundes Kind zur Welt – und war sehr glücklich. 

„Helping Hands Ukraine“ heißt Ihr aktuelles Projekt für das gequälte Land. Was machen sie genau? 

Dr. Hedwig Runnebaum: Wir kaufen in Deutschland Medikamente und Hilfsmittel, die an die Grenze gefahren werden. Dort gibt es eine Übergabe an ukrainische Ärzte und Helfer, etwa aus Odessa. Die Medikamente finden so ihren Weg in die Krankenhäuser. Wir haben auch einen Transport nach Kiew organisiert, um eine Kinderklinik zu unterstützen. Es sind viele Hilfsmittel dabei, so haben wir für die Kinderklinik auch Windeln besorgt. Die Spendenbereitschaft in unserem Land für die Ukraine ist sehr hoch. Weitere Medikamenten-Transporte sind auf dem Weg in die Ukraine. 

Interview: Sophia Zang und Ingo Leipner, Bild: Thomas Neu