Fernwärme: Strom- und Gaspreise explodieren, aber es gibt Alternativen. Das Mannheimer Fernwärmenetz versorgt bereits 60 Prozent der städtischen Haushalte. Doch es gibt große regionale Unterschiede. VON THOMAS TRITSCH

Der Anteil erneuerbarer Energien an der Fernwärme wächst kontinuierlich. Im vergangenen Jahr wurden bereits 18 Prozent der in Deutschland erzeugten Fernwärme aus regenerativen Quellen gewonnen, heißt es vom Bundeswirtschaftsministerium. Bei diesem Prinzip wird Wärme nicht über eine Heizung im Gebäude erzeugt, sondern über ein Wärmenetz von einem Kraft- oder Heizwerk an den Zielort transportiert. Fernwärme gilt als zentraler Baustein, um die Wärmeerzeugung für Gebäude und Wasser ohne Erdgas und Öl zu lösen. Neben einer langfristigen Erholung des Klimas geht es dabei aber auch darum, sich mittelfristig aus Russlands fossilem Klammergriff befreien zu können. Während die strombasierte Wärmepumpe vor allem bei Einfamilienhäusern immer attraktiver wird, gilt die Fernwärme in dicht bebauten Städten und Ballungsräumen als wichtiger Schlüssel für den Klimaschutz. Vor allem für die Wirtschaft ist das eine interessante Alternative. Mit ihr können komplette Quartiere und sogar ganze Städte oder Gewerbestandorte CO2-neutral beheizt werden. Allerdings können sich Fernwärme-Kunden ihre Anbieter nicht aussuchen. Die Planung und der Betrieb des Kraftwerks sowie der Netze liegen meistens in der Hand eines einzigen Unternehmens. Dadurch hat jedes Fernwärmeunternehmen in seinem Bezirk eine Art Monopolstellung.

Fernwärme heizt nach Zahlen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) derzeit etwas mehr als 14 Prozent aller deutschen Gebäude. Tendenz leicht steigend. Und auch für die Wirtschaft ist das Thema Versorgungssicherheit in volatilen Zeiten wichtiger denn je. Der Bund fördert seit kurzem sowohl neue „grüne“ Projekte wie auch die Umstellung bereits bestehender Anlagen, um Fernwärme klimaneutral zu produzieren. Seit Jahren haben viele Wärmeversorger händeringend auf ein solches politisches Signal gewartet. Auch in Mannheim begrüßt man den Vorstoß für eine klimaneutrale Variante durch die Integration neuer Wärmeerzeugungssysteme sowie den Ausbau bestehender Netze, um bei der Transformation der Energieversorgung endlich an Tempo aufzunehmen. Die Mannheimer MVV Energie AG will dabei nicht nur ein aktiver Treiber und Wegbereiter sein, sondern das Thema Fernwärme gleichsam neu erfinden. Im April hat der Energiekonzern ein Projekt gestartet, bei dem das Unternehmen das Wasser des Rheins anzapft, um mittels einer Flusswärmepumpe mehrere Tausend Haushalte mit Wärme zu versorgen. Nur ein Puzzlestück von vielen: Hinter dem Titel „Mannheimer Modell“, der bereits wie ein energiepolitischer Prototyp „made in Kurpfalz“ klingt, verbirgt sich eine ambitionierte Strategie, die in den kommenden zwei Jahrzehnten Maßstäbe setzen und die Energiewende in der Rhein-Neckar-Region massiv voranbringen will.

„Der Weg zu den Pariser Klimazielen führt über Mannheim“, sagt Stephan Grimm, der bei MVV als einer von zwei Gesamtprojektleitern das Projekt „Grüne Wärme“ managt. Er skizziert den Fahrplan für die nächsten Dekaden: bis 2030 will der Konzern mindestens 80 Prozent an CO2-Emissionen einsparen. Bis 2040 soll die Klimaneutralität erreicht sein. Ab diesem Zeitpunkt will MVV als eines der ersten Energieunternehmen in Deutschland dann klimapositiv agieren. „Beyond Carbon Zero“, lautet die Parole. Der gesteckte Zeitrahmen, die Fernwärme im Zuge des „Mannheimer Modells“ bis 2030 komplett zu vergrünen, ist sportlich, aber laut Grimm absolut realistisch. Der Plan: Mannheim soll zu einem Vorreiter der Energiewende werden. Die Stadt erfülle alle Voraussetzungen, um eine der ersten deutschen klimaneutralen Smart Cities zu werden. Die vorhandenen Ressourcen in der Region sollen dabei helfen. „Wir erschließen und nutzen alle verfügbaren umweltfreundlichen Technologien, um unsere Fernwärme zu dekarbonisieren“, so Grimm. Denn der Wärme-Sektor sei der größte Hebel zum Erreichen von Klimaneutralität: Als drittgrößtes deutsches Fernwärmeunternehmen versorgt die Gruppe schon heute rund zwei Drittel der Mannheimer Haushalte mit Fernwärme. Darüber hinaus werden Teile von Heidelberg, Schwetzingen, Brühl, Ketsch und Speyer beliefert. Hinzu kommen zahlreiche Industrieunternehmen und Mittelständler sowie kleine Gewerbetreibende, die über den Hausanschluss mitversorgt werden.

Eine Umstellung von fossilen auf grüne Energiequellen mache sich also in der Fläche schnell positiv bemerkbar, so der Projektleiter, der Fernwärme ein hohes Maß an Versorgungssicherheit attestiert. Engpässe seien nicht zu erwarten. Trotz Krise. Laut MVV ist Fernwärme angesichts der aktuellen geopolitischen Situation wertvoller denn je, um den Bedarf in Mannheim und der gesamten Metropolregion Rhein-Neckar zu decken.
Und wie sieht es bei den Preisen aus? Von der Gasumlage werden Fernwärmekunden in Mannheim derzeit nicht erfasst. Ob das so bleibt, ist noch unklar. Aktuell steigen zwar auch die Fernwärme-Preise, aber nicht in einem so hohen Maß wie beim Gas, meldet der Energieeffizienzverband AGFW, quasi das Sprachrohr der Fernwärme-Versorger. Pauschale Aussagen zur Kostenentwicklung seien schwer möglich, sagt auch Stephan Grimm, der von einem Blick in die Glaskugel spricht. Der Preis, den die Verbraucher letztlich zahlen müssen, hängt wesentlich vom Marktgeschehen und vom jeweiligen Fernwärmesystem der Stadt oder Region ab.

Der Fernwärmepreis setzt sich prinzipiell aus dem Grund- und dem Arbeitspreis pro Kilowattstunde zusammen. Laut Grimm sind im Arbeitspreis stabilisierende Elemente enthalten. So gibt es beispielsweise eine fixe Größe von knapp 20 Prozent sowie eine Bindung an den Lohnpreisindex von 20 Prozent. Dies schaffe bereits eine gewisse Preisstabilität. Die jüngste zyklische Anpassung erfolgte zum 1. Juli dieses Jahres und betrug etwa einen Cent pro Kilowattstunde. Umgerechnet auf den Gesamtpreis macht das circa 14 Prozent aus. Steigende Kosten für fossile Energieträger machen sich letztlich auch bei der Fernwärme bemerkbar. In den vergangenen Jahren war der Kohlepreis allerdings nicht so stark den Märkten unterworfen wie die Börsenwerte für Gas und Öl, sagt Hartmut Lang vom Privatkundenvertrieb der MVV. Daher – und aufgrund der effizienten Kraft-Wärme-Kopplung – zeigt sich die Entwicklung bei der Fernwärme insgesamt etwas weniger dynamisch – sofern selbige nicht ebenfalls vom Gas abgängig ist.
Das mit Steinkohle befeuerte Mannheimer Großkraftwerk (GKM) liefert aktuell den Großteil der Fernwärme an die MVV. Das Unternehmen will den Energieanteil aus nicht-fossilen Quellen in den nächsten Jahren allerdings deutlich erhöhen. Vor allem Biomasse, Geothermie und Flusswärme sollen es richten und die bislang im Gemeinschaftskraftwerk erzeugte Wärmeleistung in Zukunft sukzessive übernehmen. Aus schwarz wird grün.
Im April hat der Versorger auf dem GKM-Areal mit dem Bau einer Flusswärmepumpe begonnen. Eine von insgesamt fünf Großwärmepumpen, die derzeit im Rahmen des BMWK-Reallabors der Energiewende an verschiedenen Standorten in Deutschland mit unterschiedlichen Umweltwärmequellen realisiert werden. In Mannheim hat das Unternehmen besonders nah am Wasser gebaut: Die Pumpe nutzt das thermische Potenzial des Rheins zur Wärmegewinnung und wird mit dem bestehenden Fernwärmespeicher gekoppelt. Die vorhandene Infrastruktur sei dafür geradezu ideal, heißt es. Insbesondere der Wassereinlauf und -auslauf sowie die bestehende Anbindung an das Fernwärmenetz können problemlos genutzt werden. Ab 2023 soll die Pumpe – eine der größten in Europa – bis zu 20 Megawatt thermische Leistung liefern. Perspektivisch sei sogar das Sechsfache möglich, betont Grimm. Mit dieser und weiteren grünen Lösungen soll langfristig die komplette Wärmemenge von circa 1500 Megawattstunden, die aktuell noch das Großkraftwerk liefert, ersetzt werden können.

Gleichzeitig will der Konzern auch das Abwärmepotenzial auf der Friesenheimer Insel weiter erschließen und die so gewonnene Fernwärme in die Region transportieren. In die Weiterentwicklung des Standorts hat das Energieunternehmen insgesamt bereits rund 100 Millionen Euro investiert. Mit der Anbindung der thermischen Abfallbehandlung an das Fernwärmenetz wird seit 2020 die Restwärme des heißen Dampfs aus dem Kessel, der zuvor Turbinen zur Stromerzeugung angetrieben hat, ins regionale Fernwärmenetz eingespeist. Neben Privathaushalten profitieren davon auch über ein Dutzend große Industriekunden wie Roche, Bilfinger und Fuchs. Viele konnten ihre Versorgung mit Prozessdampf durch die Kopplung mit der thermischen Abfallbehandlung vollständig auf regenerative Quellen umstellen und den CO2-Aufwand innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette reduzieren. „Für diese Unternehmen ist die Gaskrise bezüglich ihrer Wärmeversorgung daher weniger relevant“, so Stephan Grimm. Die Verzahnung der Abfallwirtschaft mit der Wärmeversorgung im Ballungsraum Mannheim kommentiert er als Musterbeispiel für eine gelungene Sektorenkopplung. Bis zu 30 Prozent des gesamten Wärmebedarfs der Region können aktuell durch klimafreundliche Energien gedeckt werden.

Ab nächstem Jahr wird eine neue Klärschlammbehandlungsanlage direkt in die bestehende Abfallbehandlungsanlage integriert, um auf der Friesenheimer Insel das thermische Recycling von Phosphor aus Klärschlamm zu starten. Auch hier werden grüne Energiegewinnung und Kreislaufwirtschaft kombiniert, um die Potenziale beider Bereiche optimal und bedarfsgerecht nutzen zu können, teilt das Unternehmen mit, das schon heute von einer urbanen Wärmewende spricht. Auch nach dem Kohleausstieg soll die Fernwärme bezahlbar und versorgungssicher zu den Kunden gelangen. Durch grüne Fernwärme ergeben sich laut Stephan Grimm vor allem in urbanen Regionen große Effekte für den Klimaschutz. Gleichzeitig könnte sie dabei helfen, schneller unabhängig von russischen Energieimporten und fossilen Energieträgern zu werden. Die Transformation der Fernwärme wurde von MVV bereits lange vor dem Ukraine-Krieg begonnen – aber heute zeigt sich, dass eine lokale und nachhaltige Wärmeversorgung aus vorhandenen Quellen aktueller ist denn je.

Bild: MVV