Herr Dr. Rehn, Sie schreiben in einem Aufsatz: Es gäbe für Sie kein größeres Glück, als jetzt zu leben. Wie meinen Sie das, angesichts der Katastrophen unserer Zeit?
Es kommt darauf an, wie wir auf die Gegenwart schauen. Als ich das geschrieben hatte, konnte ich nicht ahnen, dass ein Krieg in der Ukraine ausbrechen würde, oder dass sich die Klimakrise so drastisch zuspitzt. Natürlich war mir damals schon bewusst, wie sehr das Klima bedroht ist – und wie viele andere Katastrophen es in unserer Welt gibt. Mein Fokus aber war: Wir leben in einer Zeit, in der wir Gutes nachhaltig gestalten können. In diesem Zitat kommt deshalb eine gewisse Dankbarkeit zum Ausdruck, und zwar gegenüber den Kundinnen und Kunden. Sie sind unsere eigentlichen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, denn nur durch sie sind wir in der Lage, eine Idee wie Alnatura überhaupt verwirklichen zu können. Ich empfinde Dankbarkeit gegenüber einer Zeit, in der die Entwicklung eines solchen Modells überhaupt möglich war und ist.
Sie attestieren unserer Gesellschaft eine „radikale Ökonomisierung aller Lebensbereiche“. Das würde zu einer „Entgrenzung und Entfesslung“ des Systems führen. Was meinen Sie damit?
Nehmen wir als Beispiel das Gesundheitswesen. Auch in diesem Bereich gilt der Imperativ der Ökonomisierung. Krankenhäuser sollen nur Therapien durchführen, die Geld bringen – und damit Gewinn. Die Devise lautet dabei nicht: Was ist gut für den Menschen? Viel zu oft orientieren sich medizinische Einrichtungen an materiellen Erfolgen. Alle anderen Aspekte des Lebens werden dieser wirtschaftlichen Sichtweise untergeordnet. So lange wir eine solche Haltung haben, sind wir nicht in der Lage, die anstehenden großen Probleme zu lösen.
Dr. Götz Rehn
Der Gründer von Alnatura wurde 1950 in Freiburg geboren und studierte Volkswirtschaftslehre an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität. 1979 promovierte er – und 1984 gelang ihm ein entscheidender Schritt im Wirtschaftsleben: Dr. Rehn gründete das Unternehmen „Konzeption und Vertrieb natürlicher Lebensmittel Dr. Rehn“, später Alnatura genannt.1987 öffnete der erste Alnatura Super Natur Markt in Mannheim, bis heute ist der Bio-Pionier in der Geschäftsleitung aktiv. Seit 2007 hat er an der Alanus Hochschule in Alfter eine Honorarprofessur im Fachbereich Wirtschaft, wo er das Institut für Sozialorganik leitet, das er selbst gegründet hat.
Ein Einwand könnten lauten: Menschen brauchen ein finanzielles Einkommen; Unternehmen investieren Gewinne in einen erweiterten Kapitalstock. Was ist verkehrt am Geldverdienen?
Das Geldverdienen spielt eine wichtige Rolle. Aber es geht um die Reihenfolge! Besteht das erste Ziel darin, Profite zu maximieren? Oder sollten wir nicht vorrangig beste Produkte und Dienstleistungen für Menschen bereitstellen – und damit nützlich für die Erde sein? Das alles muss natürlich unter ökonomischen Vorzeichen geschehen, damit als Ergebnis des wirtschaftlichen Handelns auch finanzielle Gewinne entstehen. Denn Gewinn im Sinne von Saatgut ist wichtig, um die nächste wirtschaftliche Phase zu gestalten. Ohne Gewinn keine Investition! Auch wir bei Alnatura wollen Überschüsse erzielen, um die Saat für die nächsten Jahre ausbringen zu können. Aber der Gewinn ist eben nicht unser primäres Ziel.
Unseren Wohlstand definieren wir in unserer Gesellschaft vorwiegend über materielle Güter – und Geld ist dafür unsere Maßeinheit. Brauchen wir eine völlig neue Haltung, um aus dieser Sackgasse herauszufinden?
Wir brauchen eine ganzheitliche Weltsicht. Stattdessen konzentrieren wir uns fast ausschließlich auf die materiellen Aspekte der Welt. Ebenso wichtig ist aber auch das Lebensprinzip der Natur, das etwa der biologisch-dynamische Landbau in den Mittelpunkt rückt. Die Frage lautet: Wie können wir der Natur helfen, dass sie Lebensmittel in bester Qualität hervorbringt? Hinzu kommt die seelische Ebene: Wir sehen gerade in dieser Zeit, wie viele Menschen Schwierigkeiten haben, in ihrem Leben zurecht zu kommen. Daraus ergibt sich als weitere Frage: Wie können wir die seelische Gesundheit im Blick behalten? Die wichtigste Frage aber lautet: Wie gelingt es uns, dass wir uns als Menschen immer mehr zu einer freien Individualität entwickeln?
Hängen diese Ebenen zusammen?
Diese Ebenen durchdringen sich wechselseitig – Materie, Leben, Seele und Geist bzw. Freiheit. Wenn wir uns nur auf die materielle Ebene konzentrieren, vernachlässigen wir weite Teile der Wirklichkeit. Daher legt Alnatura in seiner Definition von Nachhaltigkeit den Fokus nicht allein auf ökonomische, ökologische und soziale Aspekte, sondern hat auch die vierte Dimension der Kultur eingeführt. Diese beeinflusst alle drei anderen Aspekte. Dabei hat der Mensch im Mittelpunkt zu stehen, wenn er sich in einem Unternehmen ich-bewusst und frei entwickeln soll. Freiheit ist für mich immer auch geistige Freiheit.
Fakten zu Alnatura
1984 gründete Dr. Götz Rehn ein Unternehmen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten stark entwickelt hat. Das zeigen diese Fakten:
- Der Umsatz 2021/22 betrug 1,12 Milliarden Euro netto; 2,5 Prozent weniger als im vorherigen Geschäftsjahr.
- Alnatura beschäftigt heute 3 600 Mitarbeiter, inklusive 300 Lehrlinge und Studierende.
- In 72 Städten gibt es 150 Alnatura-Super-Märkte.
- 6000 Produkte werden als Bio-Vollsortiment angeboten, bevorzugt aus regionalem Anbau, sowie Naturkosmetik und Bio-Textilien.
- 1300 Bio-Lebensmittel gehören unter der Marke Alnatura zum Sortiment.
- Das Unternehmen wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis (2016 und 2020).
Quelle: Alnatura
Entsteht da nicht ein Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit?
Wir sollten auf der einen Seite der individuellen Entwicklung Raum geben, auf der anderen Seite einen Rahmen schaffen, der den sozialen Zusammenhalt garantiert. Alles auf Basis der Demokratie. Außerdem müssen wir uns klarmachen, wie arbeitsteilig unsere Wirtschaft organisiert ist. Einfach formuliert: Ich tue etwas für andere Menschen – und andere Menschen tun etwas für mich. Und: Was ich selbst herstelle, produziere ich immer gemeinsam mit anderen Menschen. Das ergibt ein Miteinander für alle Menschen!
Die Globalisierung ist der Höhepunkt dieser alten ökonomischen Entwicklung, die unseren Wohlstand erst möglich gemacht hat.
So haben sich die globalen Verflechtungen entwickelt, die wir als Lieferketten bezeichnen. Dieses Beziehungsgeflecht hat den Charakter, Menschen zusammenzuhalten. Im Moment aber reißt dieses Geflecht an vielen Stellen, und wir stellen fest, wie vielfältig die gegenseitigen Abhängigkeiten geworden sind. Daher wird oft gefordert, in Zukunft vieles selbst zu machen. Das kann schwierig und teuer werden …
Die Arbeitsteilung fördert den Frieden zwischen Menschen und Staaten.
Trotzdem ziehen sich die großen Machtblöcke in der Welt immer mehr zurück, um eine gewisse Autarkie zu erreichen. Das kann nicht funktionieren, wenn wir das Prinzip der Arbeitsteilung richtig verstehen: Wir wollen in vollem Bewusstsein für andere Menschen arbeiten, weil das eine enorme Haltekraft entfaltet. Auf diese Haltung kommt es an, wenn wir niemandem schaden wollen.
Sie gehen mit Ihrem Unternehmen neue Wege, übliche Erfolgsparameter wie Rendite und Umsatz sehen Sie kritisch. Auch die Regelung Ihrer Nachfolge ist ungewöhnlich – sie lösen Ihr Familienunternehmen auf. Warum?
An erster Stelle versuchen wir Produkte und Dienstleistungen hervorzubringen, die einen echten Nutzen für die Kundinnen und Kunden haben, aufgrund allerbester Qualität. Zudem sollten sie einen positiven Effekt für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, damit diese sich gut entwickeln können. Dazu brauchen wir natürlich Gewinne! Dabei sind wir zufrieden, wenn wir eine Umsatzrendite von zwei Prozent schaffen.
Hintergrund: Privateigentum ade!
„Das Unternehmen gehört sich in Zukunft selbst“, sagt Dr. Götz Rehn in unserem Interview. Paradox? Nein, denn Dr. Rehn hat zwei Stiftungen ins Leben gerufen, um dieses Ziel zu erreichen:
- die gemeinnützige Alnatura Stiftung. Sie wird nach der Ära Dr. Rehns endgültig das Firmen-Kapital halten.
- die Götz-Rehn-Familienstiftung. Dort sind bereits heute die Stimmrechte gebündelt. Die Stiftung begleitet und berät die Alnatura-Geschäftsführung.
Wie werden in dieser Konstruktion künftige Gewinne verwendet? Die Leitung von Alnatura trifft die Entscheidung, welche Summen sie in das Unternehmen investiert. Die übrigen Gewinne fließen der gemeinnützigen Stiftung zu, die damit ökologische, soziale oder kulturelle Projekte finanzieren kann. Alles unter der Kontrolle der hessischen Stiftungsaufsicht.
Auf diese Weise werden Kapital und Stimmrechte getrennt, was juristisch nicht ganz einfach ist. Doch Dr. Rehn sieht in dieser Konstruktion eine Garantie, dass sein Unternehmen niemals zum Verkauf ansteht. Außerdem ist er sich sicher: Alnatura werde künftig in seinem Sinne weitergeführt – entsprechend der Prinzipien und Ideen, auf deren Grundlage sein Unternehmen stetig seit 1984 gewachsen ist.
Nebeneffekt: Dem Einbringen, also Verschenken des Privateigentums in die Stiftung steht als Äquivalent gegenüber, dass sich eine etwas geringere Steuerlast im Vergleich zur klassischen Erbschaftssteuer ergibt. Denn: Bisher ist die Alnatura Produktions- und Handels GmbH im Eigentum von Gründer Götz Rehn, eigentlich ein „klassisches“ Familienunternehmen, das aber seit Jahrzehnten neue Wege geht. il
Das ist ein recht bescheidenes Ziel …
Ja, denn es geht ja nicht darum, Gewinne zu maximieren. Alnatura ist nicht darauf angewiesen, höchste Renditen zu erreichen, wie das bei einer Aktiengesellschaft der Fall ist. Bei uns ist das anders: Ich habe das Unternehmen seinerzeit als Ein-Mann-GmbH gegründet, so dass wir keine anderen Gesellschafter haben. Vor diesem Hintergrund stellte sich mir die Frage: Wie geht es nach meinem Tod weiter? Sie können ein Unternehmen vererben, verkaufen oder verschenken.
Zur ersten Alternative: Vererben kann zu Schwierigkeiten in den nächsten Generationen führen, sobald es unterschiedliche Interessen in einer Familie gibt. Vielleicht ist ein Teil der Eigentümer vor allem an hohen Ausschüttungen interessiert, was zu großen Auseinandersetzungen führen kann – und dem Unternehmen schadet.
Verkaufen wäre die nächste Alternative: Ich bin das oft gefragt worden, aber was sollte ich mit dem Verkaufserlös anfangen? Bei dieser Antwort wurde ich immer erstaunt angeschaut!
Ein neues Unternehmen gründen …
Ja sicher … jetzt habe ich aber schon fast 40 Jahre meines Lebens investiert, um Kapital mit einer vernünftigen Aufgabe zu verbinden. Ich kenne kein nachhaltigeres Unternehmen als Alnatura! Deshalb macht es keinen Sinn, dieses Unternehmen zu verkaufen, um dann ein neues zu gründen.
Die dritte Alternative ist das Verschenken mit vielen Optionen. Sie können Ihr Unternehmen als Genossenschaft Mitarbeitern oder Bürgern schenken, wie dies beispielsweise die Migros in der Schweiz getan hat. Das kann aber schwierig werden, wenn das Unternehmen im Eigentum von zwei Millionen Genossinnen und Genossen ist. Diese Lösung kam auch nicht in Frage. Also ergab sich als bester Weg, das Unternehmen sich selbst zu schenken, wozu zwei Stiftungen gegründet wurden. Das Unternehmen Alnatura gehört sich also in Zukunft selbst.
Interview: Ingo Leipner; Bilder: Thomas Neu