Ein kleines Förderband, zwei Kameras und 32 pneumatische Düsen – so sah die Versuchsanordnung aus, um in der Forschungsfabrik zu demonstrieren, wie Künstliche Intelligenz (KI) die moderne Produktion erobert. Ein Detail fehlt noch … Denn die Hauptrolle übernahmen hunderte Stückchen aus Granulat, einige in blauer Farbe, die restlichen waren verschieden gefärbt. Die Aufgabe: Das Material war zu sortieren. Das blaue Granulat landete in einem Behälter, alle übrigen Farben in einem anderen.
Bei diesem Experiment schlägt die Stunde der KI: Die erste Kamera ist über dem Förderband montiert; sie erfasst, in welcher Position sich die blauen Stückchen befinden. Mit dieser Information wird die KI gefüttert, die immer mehr lernt, die gesuchten Objekte zu erkennen. Das Förderband läuft weiter, das Granulat gerät in die Reichweite der 32 pneumatischen Düsen. Jetzt „weiß“ die KI, welche Düsen sie einsetzt: Wo ein blaues Stückchen auf dem Band auftaucht, schaltet sie die passende Düse ein, um das Granulat in den richtigen Behälter zu pusten. Die zweite Kamera hängt über den anvisierten Behältern, sie registriert das Ergebnis, wodurch die KI weitere Lektionen lernt.
Lernen ist ein wichtiges Motiv in der Forschungsfabrik. Dazu sagte Prof. Dr. Jürgen Fischer, Leiter des Instituts für Produktionstechnik (wbk) am KIT: „Sie sehen viele Roboter in den Hallen. Wir verstehen sie noch nicht in der Tiefe, da die Anlagen selbst lernen.“ Es gehe nicht darum, Prozesse nur zu optimieren, sondern unreife Prozesse besser zu durchschauen.
„Unreife Prozesse“? Dieses Schlagwort fällt oft an diesem Tag. Es steht für eine Philosophie, wie sie in der KI-Forschung weit verbreitet ist. Der Hintergrund: Es kommt in volatilen Zeiten zu immer mehr Schwankungen am Markt, gleichzeitig soll eine moderne Produktion in der Lage sein, eine steigende Zahl von Produktvarianten möglich zu machen, inklusive individualisierter Merkmale für einzelne Kunden. Die Folge: Ingenieure können kaum mehr alle Parameter im Vorfeld definieren, wie ein Produktionsprozess abzulaufen hat. Die Forschungsfabrik schreibt in ihrer Broschüre „KI-integrierte Produktion“: „Früher wurden diese Prozesse aufwändig entwickelt und daraus Anlagen abgeleitet, diese Anlagen geplant konfiguriert, zusammengebaut und in Betrieb genommen.“ Heute würden diese Prozesse zum Teil parallel erfolgen. „Als ‚Unreife Prozesse‘“, so die Forschungsfabrik, „bezeichnen wir Fertigungsprozesse, die noch nicht vollständig verstanden sind.“ Mut zur Lücke? Genau da liegt der neue Fokus der Ingenieurskunst. Nicht mehr auf dem perfekt ausgetüftelten Prozess, für den das „German Engineering“ weltweit bekannt sind.
Die Ursachen für die neue Perspektive sind vielfältig: „Unreife Prozesse“ treten in den Vordergrund, „weil sie entweder neue Technologien einsetzen, neue Werkstoffe verarbeiten, oder komplexe Wechselwirkungen zwischen Eingangsmaterial, Prozesszustand und externen Einflussgrößen auftreten.“ Das alles funktioniert nur, wenn die Reifung auf KI-Systemen aufbaut. Dabei ist es das Ziel, die erforschten Abläufe „schon in einem sehr frühen Stadium in einem industriellen Prozess umzusetzen“, so die Autoren der Forschungsfabrik. Dabei ruckelt natürlich noch die Produktion, Ausschussraten schießen in die Höhe … Doch entscheidend sind die früh gewonnen Daten, um den Prozess so zu optimieren, damit er auf lange Sicht gute Ergebnisse abwirft. „Der Prozess [wird] durch eine erweiterte Sensorik für maschinelle Lernverfahren zugänglich gemacht.“
Die Ingenieure trainieren KI-Modelle mit den vielfältigen Daten, wie es auch auf dem Förderband für das blaue Granulat geschieht. Mit Hilfe der KI sind sie in der Lage, ihre Prozess-Steuerung genau an die reale Situation in der Produktion anzupassen. Das bringt große ökonomische Vorteile: „Mittels Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) wird die Time-to-Market deutlich verkürzt, damit Unternehmen wesentlich früher auf ihren Zielmärkten erfolgreich sind“, so Professor Raoul Klingner, Direktor Forschung der Fraunhofer-Gesellschaft.
Zur Eröffnung der Forschungsfabrik kam auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann: „Der furchtbare Krieg in der Ukraine zeigt uns derzeit auch, wie schnell sich Anforderungen an Produktionsprozesse ändern können“, so der Ministerpräsident. „Aber auch abseits solcher Extremereignisse ist von Unternehmen sehr viel Flexibilität gefragt: Wenn Stückzahlen schwanken. Wenn Kunden keinen 0815-Standard wollen, sondern eine Maßanfertigung.“ Dafür bräuchten Unternehmen ein Laboratorium, „in dem exzellente Forschung auf betriebliche Praxis trifft“, sagte Kretschmann. „In drei für unser Land wichtigen Zukunftsfeldern – der Elektromobilität, dem Leichtbau und der Industrie 4.0 – wird die Karlsruher Forschungsfabrik solch ein exzellentes Labor sein“, war sich der Ministerpräsident sicher.
Was Kretschmann als „Zukunftsfelder“ beschrieben hat, spielt tatsächlich eine große Rolle in der Forschungsfabrik, besonders im Kontext kürzerer Produktlebenszyklen und individualisierter Produkte:
- Elektromobilität: Da geht es um hocheffiziente elektrische Traktionsmotoren, leistungsfähige Batterien und die kostengünstige Produktion von Brennstoffzellen.
- Leichtbau: Der Fokus liegt dabei auf additiven Fertigungsverfahren (3D-Druck), einem ressourceneffizienten Materialeinsatzes sowie die Produktion von Wasserstofftanks. Professor Frank Henning, Leiter des Fraunhofer ICT: „Leichtbaukonzepte ermöglichen es, Werkstoffe effizient einzusetzen und tragen dazu bei, Klima- und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen – sowohl in stationären als auch mobilen Anwendungen, wie der Elektromobilität.“
- Industrie 4.0: Um sie zu realisieren, sind durchgängig digitale Prozessketten im Zusammenhang mit KI zu erforschen. Außerdem wollen Wissenschaftler herausfinden, wie sich das Konzept der „Wertstromkinematik“ verwirklichen lässt.
„Wertstromkinematik“? Zu diesem Fachbegriff schreibt das KIT: Unternehmen gewinnen einen Wettbewerbsvorteil, wenn sie „auf die steigende Nachfrage nach größerer Variantenvielfalt ihrer Produkte reagieren.“ Dabei entsteht laut KIT ein ökonomisches Problem: „Ihre Preise müssen sich häufig mit denen von Konkurrenzprodukten aus hocheffizienter, automatisierter und starrer Produktion messen.“
Der Zielkonflikt spiegelt sich in der Alternative: starre Produktionslinien bei hoher Produktivität oder flexible Fertigung mit niedriger Effizienz. Diesen Konflikt will das Forschungsprojekt „Wertstromkinematik“ lösen. Ziel ist es, Produktionssysteme zu entwickeln, „die sich durch hohe Flexibilität und hohen Automatisierungsgrad gleichermaßen auszeichnen“, so das KIT. Roboter sind flexibel in einer Halle aufgebaut – wie die Legosteine auf einer Legoplatte. „Wir wollen weg von den vielen starren Maschinen, die am Boden festgeschraubt sind“, erklärt Fischer das Konzept. „Die Welt, in der wir leben und arbeiten, ist nicht stabil, sondern volatil. Agile, wandlungsfähige Produktionskonzepte und die schnelle Befähigung von Prozessen haben das Potenzial, die Wertschöpfung in Baden-Württemberg langfristig zu erhalten.“
Damit ein solche automatisierte Produktion gut arbeitet, muss sich das KIT auch mit Fragen beschäftigen, die David Meier umtreiben. Er ist tätig am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB). Meier zeigte an einer miniaturisierten Produktionsanlage, welche Gefahren für den Herstellungsprozess bestehen, wenn die Technik aus dem Ruder läuft. Sei es durch interne Fehler, sei es durch externes Hacking. Dazu lässt er kleine schwarze Töpfchen in einem Kreisprozess wandern, graue und blaue Kabel winden sich durch das gesamte Modell. Klack, klack, klack – und wieder ist ein Mini-Werkstück weitergerutscht. Jedes hat einen RFID-Chip, der wichtige Informationen sendet.
„Selbst wenn wir nicht mit dem Internet verbunden sind, kann es lokal zu einem ungezielten Angriff kommen“, erklärt Meier. Etwa durch eine zufällige Fehlfunktion im System. Dadurch können die gelben Sensoren ausfallen, die links und rechts auf dem Tisch montiert sind. Wer mit der Hand zwischen sie greift, würde eigentlich ein Stopp der Produktion auslösen … Geschieht das nicht in einem wirklichen Produktionsprozess, hätte das fatale Konsequenzen. Wer der Anlage zu nahe kommt, könnte „unter die Räder“ geraten.
So gibt es eine Vielzahl von Sensoren, die notwendig für die Produktion sind. Sie alle sind bedroht, auch ganz ohne Verbindung zum Internet. „Es kann passieren“, so Meier, „dass externe Techniker mit Laptops Schadsoftware einschleppen.“ Und: Hacker aus der ganzen Welt sind in der Lage, in Produktionssysteme einzudringen. Diese Systeme sind oft aus kleinen Produktionsinseln entstanden, die jetzt in einer Fertigungsstraße verbunden sind – durch viele logistische und digitale Abläufe.
„Genau an diesen Wachstumspunkten wird oft nicht daran gedacht, dass die Gefahren durch Cyberangriffe zunehmen“, schreibt Stefan Schachinger. „Daher wird auch keine Gefahrenabwehr konzipiert. Denn viele Unternehmer sind oft der Auffassung, dass die vorhandene IT-Sicherheit auch die wichtige Produktion abdeckt.“ Produktionsmaschinen und Arbeitsnetzwerke hätten aber Sicherheit durch Operative Technologie (OT) nötig. „Denn klassische IT-Security-Lösungen sind anders konzipiert als eine OT-Security“, so Schachinger. Ein Element dieser OT-Security nennt auch Meier, nämlich „die Segmentierung der Produktion durch Sicherheitszonen.“ Ganz klar: Vernetzung im Betrieb ist neu zu denken.
Egal, ob KI, Roboter oder OT-Security – immer steht für Prof. Holger Hanselka im Mittelpunkt, wie Wissenschaft und Wirtschaft zusammenarbeiten. Der Präsident des KIT sagte bei der Eröffnung: „Die Karlsruher Forschungsfabrik ist eine Blaupause für den gemeinsamen Erfolg. Durch die enge Kooperation mit der Industrie verschmelzen wir die vielversprechendsten Ansätze zu innovativen Lösungen für produzierende Unternehmen sowie den Maschinen- und Anlagenbau.“
Text: Ingo Leipner, Bilder: KIT