AbbVie ist ein globales Unternehmen und in Ludwigshafen aktiv. Warum gibt es hier Forschung, Entwicklung und Herstellung an einem Standort? 

Dr. Hendrik von Büren: Unsere Ursprünge liegen in der Firma Knoll, die vor 136 Jahren in Ludwigshafen gegründet wurde. Dieses Unternehmen übernahm Abbott im Jahr 2001 – und für die Firma Knoll war Ludwigshafen der Nabel der Welt. Hier konzentrierten sich alle Aktivitäten: Vertrieb (Commercial), Forschung und Herstellung. Mit der Übernahme durch Abbott wanderte der Bereich Commercial nach Wiesbaden. So haben wir hier einen traditionell starken Forschungs-, Entwicklungs-, und Herstellungsstandort. Das ist historisch so gewachsen; Abbott hat die Strukturen übernommen, und AbbVie hat sie weitergeführt. 

Dr. Christian Maurer: Was unseren Standort auszeichnet, ist die interessante Tatsache, dass wir ihn immer aufrechterhalten konnten – über einen großen Zeitraum und trotz mehrerer Firmenübernahmen. Zudem werden in Ludwigshafen starke Leistungen erbracht, weshalb alle Forschungs- und Herstellungsbereiche erhalten geblieben sind. Das ist auch für uns ein schönes Zeichen. 

Im Moment reißen global viele Lieferketten. Da scheint so eine lokale Konzentration ihren besonderen Vorteil zu haben? 

Dr. Hendrik von Büren: Wir hatten tatsächlich während der ganzen Pandemie keine Probleme mit unseren Lieferketten, da AbbVie einen sehr großen Teil aller Herstellungsprozesse in der eigenen Hand hat. 

 

Damit meinen Sie nicht nur Ludwigshafen?

Dr. Christian Maurer: Ja, es gilt für das ganze globale Produktionsnetzwerk. Gerade bei neueren Produkten wird nicht mehr an einem Standort „end-to-end“ produziert, sondern wir verteilen das auf verschiedene Stufen an verschiedenen Standorten in der Welt. Das geschieht aber alles intern, so dass AbbVie die allermeisten Wirkstoffe selbst herstellt. Wir sind kaum von Lieferanten, zum Beispiel aus China oder Indien, abhängig. Natürlich bedeutet das höhere Kosten als bei vielen anderen Unternehmen. Aber die Qualität und vor allem die Liefertreue bestärken uns jedes Mal wieder, an dieser Strategie festzuhalten. 

 

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Dr. Christian Maurer

Der Pharmazeut ist bei AbbVie Deutschland für den Geschäftsbereich Arzneimittelherstellung und -distribution in Ludwigshafen verantwortlich. Vor seiner Funktion als Geschäftsführer war er als Manufacturing Director bereits dafür zuständig, die Produktion am Standort Ludwigshafen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Maurer promovierte in Molekularbiologie an der Universität Heidelberg. 

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In der gegenwärtigen Krise ist diese Strategie sicher ein Joker, den Sie ziehen können. 

Dr. Christian Maurer: Das ist wirklich ein echter Joker. Fragen Sie einmal Bekannte oder Verwandte, welche Medikamente sie in den letzten zwei Jahren nicht bekommen haben. Das ergibt eine lange, lange Liste an Firmen! Ich bin mir aber relativ sicher, dass AbbVie fast nie dabei sein wird. 

 

Damit beweist AbbVie, dass Outsourcing zwar Kosten senken kann. Aber auf Kosten anderer betriebswirtschaftlicher Ziele, etwa die Zuverlässigkeit von Lieferketten oder die nötige Qualität von Vorprodukten. 

Dr. Hendrik von Büren: Dazu trägt auch die Vielfalt am Ludwigshafener Standort bei. Außerdem zeigen sich hier viele Stärken, die einige vielleicht als „typisch deutsch“ bezeichnen würden: Wir sind sehr gut bei der Entwicklung von Technologie, so kommen der Extruder und die Schmelz-Extrusion in der pharmazeutischen Herstellung aus Deutschland. Für diese Technologie verfügt mein Kollege Christian in Ludwigshafen vermutlich über den größten Maschinenpark, den es in der Pharma-Welt gibt. 

 

Dr. Christian Maurer: Eine renommierte Unternehmensberatung hat gerade eine Analyse gemacht, wie die Stärken und Schwächen der AbbVie-Standorte aussehen. Dabei stellte sich heraus: Wir haben eine so hohe Produktivität, dass wir auch mit einigen Niedriglohnländern mithalten können. Oder mit anderen Worten: In diesen Ländern mit Niedriglöhnen werden einfach viel mehr Ressourcen aufgewendet, um zum gleichen Ergebnis zu kommen. 

 

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Dr. Hendrik von Büren 

Der Pharmazeut ist bei AbbVie Deutschland für den Bereich Forschung und Entwicklung in Ludwigshafen verantwortlich. Gleichzeitig ist er seit 2010 tätig als Head of Drug Product Development/Development Sciences und als Mitglied des globalen Development Sciences Führungsteams bei AbbVie. Dr. Hendrik von Büren promovierte an der Universität Heidelberg. 

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In welchen pharmazeutischen Bereichen forschen Sie in Ludwigshafen? 

Dr. Hendrik von Büren: Wir sind in sechs Forschungsbereichen aktiv. Einer der wichtigsten Bereiche ist sicher im Moment die Immunologie. Aber auch die Onkologie hat eine hohe Bedeutung, und speziell in Ludwigshafen arbeiten wir auf dem Gebiet der neurologischen Erkrankungen. Hier ist unsere Forschung spezialisiert auf Alzheimer und Parkinson. Beides sind extrem komplexe Krankheiten, bei denen es sehr wichtig ist, dass wir sie noch besser verstehen. Um dieses Verständnis zu bekommen, betreiben wir Spitzenforschung und nutzen die neuesten wissenschaftlichen Modelle. 

  

Spielen da auch Computermodelle eine Rolle? 

Dr. Hendrik von Büren: Die digitale Forschung ist für uns enorm wichtig und eröffnet uns viele neue Optionen, aber die Forscher arbeiten auch mit Modellen, in denen wir humane Nervenzellen in einer Petrischale züchten. So können wir beispielsweise bei Alzheimer immer besser verstehen, welche biologischen Mechanismen die Erkrankung beeinflussen. Unser Ziel ist es, so hoffentlich wirkungsvolle Ansätze zur Behandlung dieser Erkrankung zu entwickeln. Im Forschungsschwerpunkt Virologie sind wir besonders stolz darauf, dass wir ein Medikament entwickelt haben, das Menschen sogar vom Hepatitis-C-Virus (HCV) heilen kann. Denn HCV kann u. a. schlimme Erkrankungen der Leber auslösen, etwa eine Leberzirrhose. 

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Unmet Medical Needs (UMN) 

„In der Literatur werden nicht weniger als 15 verschiedene Definitionen für „Unmet Medical Needs“ (UMN) genannt, den ungedeckten, medizinischen Bedarf. Sie umfassen verschiedene Elemente, die vom Fehlen therapeutischer Optionen bis zur Belastung durch die Krankheit und ihren Schweregrad reichen. UMN ist kein fremdes Konzept in der EU-Gesetzgebung und der nationalen Arzneimittel-Bewertung, aber die englische Bezeichnung ist ein zentraler Begriff in der Diskussion geworden, die zur Überarbeitung der Rechtsvorschriften für Arzneimittel für seltene Leiden, Kinderarzneimittel und allgemeine Arzneimittel geführt wird.“ 

European Confederation of Pharmaceutical Entrepreneurs (EUCOPE), Juli 2022 

 

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Auf solche Erkrankungen sind Sie bei AbbVie spezialisiert? 

Dr. Hendrik von Büren: Wir haben uns auf „Unmet Medical Needs“ (UMN) spezialisiert: Wir wollen immer Medikamente entwickeln, die wirklich das Leben der Menschen verbessern. Dazu konzentrieren wir uns auf Krankheiten, für die es noch keine oder nur unzureichende Medikamente gibt. 

 

Wie gehen sie dabei in der Praxis vor?  

Dr. Christian Maurer: Wir fokussieren uns auf Erkrankungen im Bereich unserer Forschungsschwerpunkte, weil wir hier besondere Expertise haben. Wir suchen nach einem Ansatzpunkt im Körper, von dem aus wir den Krankheitsmechanismus beeinflussen können. Dann gilt es, passende Moleküle oder Antikörper zu finden, die möglichst spezifisch an die gefundene Zielstruktur andocken. Danach beginnt ein langer Weg der Erforschung und Entwicklung, auf dem die meisten Ansätze scheitern. Nur, wenn sich ein Medikament in klinischen Studien als wirksam und sicher erwiesen hat, bekommt es die Zulassung der Behörden. Da es beispielsweise bei Autoimmunerkrankungen viele Krankheiten gibt, denen sehr ähnliche Prozesse zugrunde liegen, untersuchen wir natürlich, ob ein Antikörper – diese werden oft auch als Biologics bezeichnet – auch in ähnlichen Indikationen helfen kann. Das muss selbstverständlich wieder in umfangreichen klinischen Studien belegt werden, um eine Zulassung zu bekommen. 

 

Sie sprechen von den sogenannten „Biologics“. Welche Rolle spielen sie in Ihrer Forschung? 

Dr. Hendrik von Büren: Eine sehr große Rolle! Rund 50 Prozent unserer Pipeline-Projekte sind „Biologics“. Das sind große Moleküle, die sich dadurch auszeichnen, im Körper tatsächlich oft vorzukommen. Das kann ein Antikörper sein, der an bestimmte Targets bindet und auf diese Weise seine Wirkung erzielt. Aus diesen Molekülen entwickeln wir Medikamente, wodurch wir auch die biologischen Prozesse noch besser verstehen.  Ihre Herstellung in Bioreaktoren ist relativ aufwendig. 

 

Beispiel Morbus Crohn: Die Inzidenz dieser entzündlichen Darmkrankheit liegt in Deutschland etwa bei 6 von 100.000 Einwohnern, eine ziemlich geringe Patientenzahl. Doch der Umsatz von AbbVie lag 2021 bei über 56 Milliarden Dollar, der Gewinn betrug 11,5 Milliarden Dollar, was einer Umsatzrendite von 20,5 Prozent entspricht. Wie kann bei so kleinen Märkten Ihr Geschäftsmodell funktionieren? 

 

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AbbVie 

AbbVie ist ein globales, forschendes BioPharma-Unternehmen. Im Fokus stehen lebensbedrohliche und chronische Erkrankungen, für die es bisher keine oder nicht ausreichende Therapien gibt. Rund 50.000 Mitarbeiter sind weltweit für AbbVie tätig. Das Unternehmen hat über 30 Forschungs- und Produktionsstandort, der zweitgrößte befindet sich in Ludwigshafen. 2021 betrug der weltweite Umsatz über 56 Milliarden Dollar. 

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Dr. Christian Maurer:  Bei Morbus Crohn traf die oben geschilderte Konstellation ein: Eines unserer Medikamente, das bereits für Autoimmunerkrankungen wie der rheumatoiden Arthritis zugelassen war, hat sich in klinischen Studien auch als wirksam zur Behandlung dieser Erkrankung gezeigt und deshalb eine Zulassungserweiterung erhalten. Gleichzeitig haben wir bereits an einer neuen Therapie geforscht, die Patienten mit Morbus Crohn, aber auch weiteren Krankheitsbildern, noch mehr Vorteile bringen soll. Das neue Medikament ist kein Antikörper, sondern liegt als Tablette vor, was Vorteile bei Einnahme und Lagerung hat, denn Biologics müssen unter die Haut gespritzt werden. 

Wir sind mittlerweile eines der größten Pharmaunternehmen der Welt und generieren entsprechende große Umsätze … Rund 52 Millionen Menschen werden mit AbbVie-Therapien behandelt. Bei den Herstellern verschreibungspflichtiger Medikamente waren wir 2021 sogar die Nr. 2 hinter Pfizer.  

 

2018 war weltweit Ihr Blockbuster Adalimumab das umsatzstärkste Medikament mit 19,9 Milliarden Dollar, dann endete der Patentschutz in Europa. Mit Adalimumab wird u. a. Morbus Crohn therapiert. Wie kam es zu diesem Erfolg? 

Wir haben hier einen Antikörper entwickelt, der sich als extrem erfolgreich zur Behandlung verschiedener Krankheiten herausgestellt hat und mittlerweile für 15 Krankheitsbilder zugelassen ist. Morbus Crohn umfasst dabei nur eine kleinere Patientengruppe. 

Dr. Hendrik von Büren: Außerdem müssen Patienten mit Morbus Crohn ihr ganzes Leben lang behandelt werden. Alle gegen diese Krankheit zugelassenen Medikamente können nur die Symptome lindern; die Krankheit selbst lässt sich bisher nicht heilen. Für Patienten ist das trotzdem ein großer Erfolg, weil ihr Leidensdruck sehr hoch ist und die Therapien ihre Lebensqualität enorm verbessern können.  

 

Aber der Preis ist hoch: 2.859,17 Euro für sechs Injektionslösungen Adalimumab (Humira). Geraten Sie da nicht in ein ethisches Dilemma, zumal AbbVie 2021 einen hohen Gewinn von 11,5 Milliarden Dollar erzielte? 

Dr. Hendrik von Büren: Jedes neue Medikament muss in Deutschland im sogenannten AMNOG-Prozess nachweisen, dass es für die Patienten einen relevanten Zusatznutzen liefert. Auf dieser Basis wird der Preis dann u. a. mit den Krankenkassen verhandelt. . Der Nutzen von Adalimumab ist so groß, dass sein Preis gerechtfertigt ist. Man muss sich immer bewusst machen, dass die  Entwicklung neuer Medikamente Milliarden kostet und im Schnitt mehr als zehn Jahre dauert. Hinzu kommt, dass die große Mehrheit der Forschungsansätze scheitert. Wenn dies erst in den späten klinischen Studien passiert, sind dem Unternehmen schnell Kosten von über eine Milliarde entstanden. Parallel zur Entwicklung wird oft schon in Produktionsanlagen investiert, damit die Therapie Patienten nach der Zulassung schnell zur Verfügung stehen kann.  

Dr. Christian Maurer: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass AbbVie ein Wirtschaftsunternehmen ist. Im Gegensatz zu anderen Industrien werden Pharmaunternehmen sehr schnell mit ethischen Fragen konfrontiert. Ganz anders in der Autoindustrie: Viele Menschen sind auf PKW angewiesen, aber die hohen Preise werden nicht in Frage gestellt. Nur wenn wir gut aufgestellt sind und es für Investoren attraktiv ist, ihr Geld bei uns zu investieren, können wir kontinuierlich Forschung und Entwicklung finanzieren. Seit unserer Gründung 2013 haben wir dafür rund 50 Milliarden US-Dollar ausgegeben. Wollen wir weiter innovativ forschen, entwickeln und produzieren, müssen wir auch zukaufen: Assets für bestimmte Vorstufen oder gleich ganze Firmen. Das Geld dafür liegt nicht auf dem „Festgeldkonto“, weshalb wir für Investoren ein interessanter Partner sein sollten. Nur so werden wir Patienten auch in Zukunft helfen können und einen echten Unterschied in ihrem Leben machen. Und genau das ist es, was uns antreibt. 

Interview: Ingo Leipner (Bilder: Thomas Neu)