Herr Dr. Gromer, Sie blicken über Jahrzehnte der wirtschaftlichen Entwicklung an der Bergstraße zurück. Was ist in Ihren Augen der größte ökonomische Sprung gewesen?
Dr. Jürgen Gromer: Einer der größten Sprünge war sicher die Ausweisung des Gewerbegebiets „Stubenwald“ in Bensheim. Das war der Start für größere Gewerbegebiete im gesamten Gebiet des Kreises Bergstraße und bedeutende Ansiedlungen. Diese Entwicklung begann 1998 mit einer Idee des Bensheimer Bürgermeisters Georg Stolle. Er regte an, die Wirtschaftsförderung Mittlere Bergstraße zu gründen, getragen von fünf Städten und Gemeinden, nämlich Bensheim, Zwingenberg, Lautertal, Einhausen und Lorsch. Ziel war es, mehr Wirtschaftskraft und damit Wohlstand an der Bergstraße zu schaffen. Die Wirtschaftsförderung Mittlere Bergstraße war der Nukleus für die spätere Wirtschaftsförderung Bergstraße GmbH.
Wie ist dieser Sprung gelungen?
Gromer: Im „Stubenwald“ siedelten sich bald sehr interessante Firmen an, etwa TE Connectivity, früher Tyco Electronics, für die ich bis 2007 als President und CEO die weltweite Verantwortung getragen habe. Auch andere Unternehmen wie zum Beispiel Jungheinrich, Herbert oder in jüngerer Vergangenheit Pfaff kamen dazu, und es ist bis heute viel entstanden. Gerade weil diese ersten Ansiedlungen ein wichtiger Magnet waren, um weitere Gewerbegebiete in der Region zu realisieren. Zudem war dort Grund und Boden vor 25 Jahren zu guten Konditionen zu erwerben. Und: Die Gewerbesteuer war relativ niedrig. Trotzdem haben diese Ansiedlungen zu höheren Einnahmen geführt, sie haben mehr Arbeitsplätze möglich gemacht – und unterm Strich größeren Wohlstand an die Bergstraße gebracht.
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Dr. Zürker ist promovierter Ingenieur und studierte an der Technischen Universität Kaiserslautern. Nach Stationen im Bereich der Kommunalberatung stieg er 2010 als Leiter Unternehmerservice bei der Wirtschaftsförderung Bergstraße GmbH (WFB) ein und wurde 2012 deren Geschäftsführer.
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Was war so attraktiv an den neuen Gewerbegebieten, dass sich große Unternehmen dafür entschieden haben?
Gromer: Das war sicher die gute geographische Situation, plus die Infrastruktur aus Autobahnen und Bahnlinien (ICE-Anbindung, S-Bahn). Wir profitieren von der idealen Lage in der Mitte zweier starker Metropolregionen Frankfurt/Rhein-Main und Rhein-Neckar. Wir haben sehr gute Schulen, etwa das „Alte Kurfürstliche Gymnasium“ (AKG), das „Goethe-Gymnasium“, beide in Bensheim, oder das Starkenburg Gymnasium in Heppenheim. Nicht zu vergessen die großen Universitäten in Darmstadt, Frankfurt, Heidelberg, Mainz und Mannheim. Alles in nächster Nähe mit allen Fakultäten, die sich Studierende wünschen können. Schließlich der unmittelbare Kontakt zur Natur, was die Menschen heute sehr zu schätzen wissen. Sie sind gleich im Ried, am Rhein oder im Odenwald. Ein sehr attraktives Gebiet!
Sie selbst sind aus Stuttgart? Und wollen nicht mehr in die alte Heimat zurück?
Gromer: Ja, ich selbst komme aus Stuttgart und sage ganz klar: Ich würde niemals nach Stuttgart zurückgehen; es gefällt mir hier viel besser! Was noch dazu kommt, sind die vielen Möglichkeiten, Kultur zu erleben. Theater, Opernhäuser oder lokale Festspiele wie in Heppenheim, lauter kulturelle Ereignisse, die für diese Region einzigartig sind. Die Mischung aus Wirtschaft, Natur und Kultur ist gerade für junge Familien sehr attraktiv.
Herr Dr. Zürker, jetzt sind wir schon bei den Vorteilen des Standorts angekommen. Welche Perspektiven wollen Sie noch hinzufügen?
Dr. Matthias Zürker: Einige. Warum haben sich damals die Unternehmen so gerne im „Stubenwald“ angesiedelt? Ein wichtiger Faktor war sicher auch die gute Betreuung. Sie bestand nicht nur aus Werbung für das neue Gewerbegebiet, sondern auch in der Begleitung im Prozess der Ansiedelung. Sie ist immer mit vielen Fragen verbunden, von der Suche eines geeigneten Grundstücks bis zur Baugenehmigung, inklusive der Finanzierung und dem Einwerben entsprechender Fördermittel. Diese aktive Betreuung war sehr wichtig – und ist es heute noch.
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Dr. Gromer hat Physik studiert und übernahm vor 40 Jahren die Geschäftsführung bei AMP Deutschland. Von August 1999 bis Dezember 2008 war er als President und CEO von Tyco Electronics mit Sitz in Harrisburg, USA, tätig, heute
TE Connectivity, Weltmarktführer bei passiven elektronischen Bauelementen. Jetzt engagiert sich Dr. Gromer im Beirat der Wirtschaftsförderung Bergstraße GmbH (WFB) und ist dessen Vorsitzender. Er ist weiterhin in verschiedenen Aufsichtsräten und als Managementberater tätig.
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Lässt sich der Erfolg in Zahlen ausdrücken?
Zürker: Im Rückblick können wir bestimmte Zahlen auf uns wirken lassen: 1998 hatten wir in der Wirtschaftsregion Bergstraße 60 000 sozialversicherungspflichtige Jobs; 2022 sind es knapp 80 000. Die Arbeitslosenquote lag 1998 bei 8 Prozent, heute ist sie bei 4 Prozent angekommen. Alle ökonomischen Kennziffern haben sich in die richtige Richtung entwickelt – und sie zeigen, was Herr Dr. Gromer schon als positiven Weg beschrieben hat. Wichtig ist die geographische Lage. Wir haben uns einen speziellen Claim ausgedacht: „Wir sind hier in der Metropoleposition“. Denn wir liegen in der Mitte zweier Metropolregionen: Rhein-Main und Rhein-Neckar. Deren Bevölkerung beträgt zusammen acht Millionen Menschen, und wir sind einer der Räume in Europa, die am stärksten wachsen. Die Wachstumsdynamik ist gut für die Unternehmen, die in der Region Rhein-Main-Neckar Absatzmärkte finden – und an den vielen Hochschulen und Universitäten Zugang zu hochqualifizierten Fachkräften haben.
Wie groß ist das Potenzial künftiger Fachkräfte an den Hochschulen?
Zürker: In einem Umkreis von 50 Kilometern gibt es mehr als 200 000 Studierende an den Universitäten und Hochschulen, ein großes Potenzial künftiger Mitarbeiter. Nehmen Sie die Berufsgruppe der Ingenieure: Sie sind ja sehr gefragt und werden unter anderem an der Technischen Universität (TU) Darmstadt ausgebildet. Ein entscheidender Standortvorteil ist ebenfalls der Frankfurter Flughafen. Nicht zu vergessen: der wichtige Binnenhafen in Mannheim oder die Forschungseinrichtungen, die im großen Stil gerade in Darmstadt, Mainz oder auch in Heidelberg entstehen. So existieren wenige Regionen, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zugleich hervorragende Standortfaktoren bieten. Denn Unternehmen gehen ja gerne in Regionen, wo sich auch die Mitarbeiter wohlfühlen.
Kommt der Wohnungsmarkt bei einem solchen Wachstum noch hinterher?
Zürker: In den letzten Jahren hat dieser angezogen. Überall wurde in der Wirtschaftsregion Bergstraße gebaut oder saniert, wie zum Beispiel bei der Umnutzung der ehemaligen Psychiatrie in Heppenheim. In Einhausen wird gerade ein weiteres Baugebiet bebaut. So muss der Wohnungsbau natürlich mit der gewerblichen Entwicklung mithalten. Das gilt ebenso für Betreuungsangebote für die Kleinen wie auch die ältere Generation.
Einfamilienhäuser in der Fläche sind das eine, preisgedämpfter Wohnraum das andere, oder?
Zürker: Ja, richtig. Das liegt in der Verantwortung der Kommunen im Zusammenspiel mit Wohnungsbauinvestoren. Doch die Verantwortlichen denken um, ein Beispiel ist das Projekt „Meerbachsportplatz“ in Bensheim. Da startet jetzt ein Bauvorhaben, das Wohnraum in unterschiedlichen Preisstufen anbieten wird. Dabei sorgen die Kommunen für eine gute Durchmischung, damit für die einzelnen Einkommensschichten Wohnraum zur Verfügung steht. Wichtig ist es auch, so wenig wie möglich Entwicklung im Außenbereich zu betreiben – und möglichst viel Fläche im Innenbereich zu nutzen.
Gromer: Wenn Sie in Bensheim arbeiten und das Wohnen Ihnen hier zu teuer ist, dann können Sie in den Odenwald ausweichen. Dort sind die Preise niedriger – einige Mitarbeiter bei TE Connectivity sind in den Odenwald gezogen. Noch ein Wort zum Flughafen Frankfurt, den wir in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug bewerten können. Er lässt sich in 25 Minuten erreichen, was heute auch für Logistiker bedeutsam ist, weil viele Güter per Luftfracht verschickt werden.
Zürker: Ein Punkt noch zum Wohnen. Arbeitnehmer können ihren Arbeitsplatz in der Wirtschaftsregion Bergstraße haben, wohnen aber in den Oberzentren Darmstadt, Mannheim oder Heidelberg. So verbinden Pendler eine großstädtische Wohnsituation mit einem attraktiven Arbeitsplatz, der über Straße und Schiene gut zu erreichen ist.
Ihre Wirtschaftsregion, Herr Dr. Zürker, ist sehr heterogen. Sie reicht von der dicht besiedelten Bergstraße bis in den Odenwald, wo vorwiegend ländliche Strukturen zu finden sind. Driftet da die ökonomische Entwicklung auseinander?
Zürker: Ganz im Gegenteil! Bereiche des vorderen Odenwalds haben sich mitunter besser entwickelt als Bereiche an der Bergstraße. 2010 gab es aber Prognosen, die Zahl der Unternehmen und Einwohner würde im vorderen Odenwald deutlich zurückgehen. Mit der Folge, dass Kommunen weniger Flächen ausgewiesen haben. Mittlerweile machen sie neue Angebote, um die Firmen und Bürger zu halten sowie neue zu gewinnen. Natürlich haben sich die Bergstraße, das Ried, der Vordere Odenwald und das Neckartal unterschiedlich entwickelt, zumal es vielerorts topografisch nicht so leicht möglich ist, Flächen für Ansiedlungen bereitzustellen.
Gromer: Diese Teile der Wirtschaftsregion sind aber auch auf einem niedrigeren Niveau gestartet, wenn wir 25 Jahre zurückblicken. Damals haben sich die Odenwälder beschwert, die Wirtschaftsförderung würde sich nur für Heppenheim oder Bensheim einsetzen. Dabei konnten sie sich mitentwickeln, zwar mit etwas Verzögerung, aber in signifikanten Schritten. Wir haben in den genannten Teilen der Region attraktive, gestandene Unternehmen, die schon lange Zeit vor Ort arbeiten und mit ihren Dienstleistungen und Produkten an der Weltspitze liegen. Das wirkt gerade auf junge Menschen wie ein Magnet, weshalb es diesen Unternehmen auch in angespannten Zeiten nicht so schwerfällt, neue Mitarbeiter zu gewinnen.
Zürker: Das gilt zum Beispiel für die Kopp GmbH in Lindenfels, die wir bei der Realisierung eines neuen Standortes unterstützt haben. Oder die KOMDRUCK AG, die wir bei ihrem Weg von Heppenheim nach Fürth begleitet haben, etwa beim Thema Fördermittel. Daher ist ein signifikantes Wachstum im Odenwald vorhanden, und die ausgewiesenen Gewerbeflächen sind fast alle vergeben. Wichtig dabei: Viele Unternehmen sind sehr mit ihrer Lage im Odenwald zufrieden, sie würden kaum auf die Idee kommen, an die Bergstraße zu ziehen.
Stichwort Digitalisierung: Hat jetzt jedes Unternehmen einen leistungsfähigen Breitbandanschluss, oder hakt es da immer noch?
Zürker: Jedes Unternehmen im Kreis Bergstraße hat Zugriff auf einen Internetzugang mit mindestens 50 MBit/s und bis zu 1 000 Mbit/s. Viele können schon, besonders in neuen Gewerbegebieten, Glasfaser-Anschlüsse nutzen. In neuen Baugebieten wird sowieso nur noch Glasfaser verlegt. Bei der Digitalisierung zahlt sich Kooperation aus, wie die Kommunen im Odenwald gezeigt haben: Erst haben sie es im Rahmen einer interkommunalen Zusammenarbeit geschafft, für ihre Unternehmen und Bürger ein Breitband-Netz zu realisieren. Vorher hatte sich kein privates Unternehmen dafür interessiert. Dann kam ein privater Interessent, kaufte den Kommunen digitale Infrastruktur ab und entwickelt diese nun zum Gigabitnetz weiter. So kann es auch einmal laufen; wir kommen in unserer Wirtschaftsregion mit der Digitalisierung gut voran.
Gromer: Von Anfang an war es das Ziel der Wirtschaftsförderung, die Digitalisierung voranzutreiben. Wir haben es bei dieser Aufgabe geschafft, deutschlandweit an der Spitze zu liegen. Unsere Region ist eine der ersten gewesen, der ein solcher flächendeckender Ausbau gelungen ist. Ohne die Wirtschaftsförderung hätten wir das niemals geschafft. Insgesamt sehen wir unsere Wirtschaftsförderung als sehr leistungsfähig und erfolgreich. Ich bin der Meinung, dass wir eine der besten Wirtschaftsförderungen Deutschlands sind.
Interview: Ingo Leipner; Bilder: Thomas Neu